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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 40.1935, (Nr. 1-53)

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Nr. 35
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https://doi.org/10.11588/diglit.6779#0546
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1 9 3 5 /

J u

4 0. JAHRGANG

D

NR. 3 5

Ein alter

Spruch in einer alten Stadt

Von Otto M i 111 e r ? E v e n h a u s e n

DER IVRIST MIT SEINEM BVCH,

DER IVD MIT SEINEM GSVCH VND
DAS VNDER DER FRAVEN FIRTVCH
DIE DREV GESCHIRR MACHEN
DIE GANNCZEN WELT 1ER

So 1)1 zu lesen an einer alten Fassade in der Herrengasse gegenüber
dem Rathause zu Wasserburg am Inn in einer Wandnische, die sichtlich
den Platz eines zugemauerten Fensters einnimmt. Im Lause der fünf
Jahrhunderte, die so aus dem kreuzgewölbten Laubengang und sonstigen
hochwasserfesten Gemäuer des GrundgeschoßeS steht, wird das nicht die
einzige bauliche Veränderung gewesen sein, der das HauS unterworfen
worden ist.

Auch das Schmuckwerk der Fassade ist des öfteren übermalt worden.
Das ist der ursprünglichen Schreibweise des Sinnspruches nicht zum
Besten bekommen, und ebenso haben die drei Figuren, die über dem Text
gleichsam als Illustration den Raum füllen, vom Wandel des Zeit-
geschmackes allerhand abgekriegt.

Dem Juristen haben sie ein Mäntelchen von kaiserlichem Hermelin
und Purpur angezogen. Von blonden Kinderlöckchen umrahmt, blickt
sein rosiges Gesicht mit der blnschuldsmiene eines Posaunenengels unter
dem roten Barett hervor, und er scheint daS Buch in Händen zu halten
nicht um die Welt irr zu machen, sondern vielmehr um ihr ein hübsches
Liedchen daraus vorzusingen. Der Jude, der neben ihm unter dem Eichen-
ast vor dem blauen Himmel steht, hat freundliche Spitzbäckchen unter
den verschmitzten Äuglein und ist so sonnverbrannt wie ein General-
direktor, der in der Wintersonne von Sankt Moritz unbändige Kräfte
gesammelt hat: Spielend wiegt er in Händen einen schon äußerlich gold-
farbenen Sack, der seiner Größe nach gut und
gern einen Zentner vollwichtiger Dukaten ent-
hält. Aber an der Frau, die hier unter der
deutschen Eiche nicht anders als vordem unter
dem fatalen, alttestamentarischen Apfelbaum
den Evasplatz zunächst dem Stamme einnimmt,
au dieser Frau sind die Jahrhunderte vorbei-
gegangen, ohne ihr zu schaden. Gelassen steht
sie da, die Arme unter der Brust verschränkt.

Aus dunklen Augen unter den feingezeichneten,
etwas schrägen Brauen trifft dich ihr Blick
von der Seite her, und ohne daß der süße
Mund sich dabei verzöge.

Über die Vorgeschichte deü Bildes und des
Sinnspruches ist auS örtlichen Duellen an
Wahrheit und an Dichtung nichts Nennens-
wertes zu erfahren. Somit bleibt die Wahl
des historischen Hintergrundes der poetischen
Freiheit überlassen, und an historischen Hinter-
gründen fehlt eS ja nicht in diesem wunder-
vollen Städtchen, in dem fast jeder Winkel
nicht etwa versteinerte, sondern lebendig ge-
bliebene Geschichte ist seit dem Tage des Jahres
1137, da Hallgraf Englibert HI. seinen Wohn-
sitz Attel dem dortigen Chorherrenstift überließ
und mit Gefolge und Gesinde in seine „Wazzer-
burg" übersiedelte.

Acht Jahrhunderte deutscher Geschichte sind Ge-
dankenvorrat mehr als genug für den kurzen Weg
und Anstieg durchs altertümliche, zinnengekrönte
Brucktor, über die breite Jnnbrücke und dann

hinauf zum kleinen Hain alter Linden und Eichen auf der Kuppe des grünen
MagdalenenbergeS. Wann würdest du des Rückblickes jemals satt von
diesem weitschauenden Hügel? Zweimal siehst du von hier aus den Inn:
Von Mittag kommend schmiegt er sich dicht Unter den mauerdurchsetzten,
grünenden Hang, auf dem die alte Wazzerburg wuchtet und zwischen
zwei breitgestuften Giebelsronten das Kirchlein mit nadelscharfem Turme
steht, wie eine mit gereckter Lanze reglos haltende Dedette der Ewigkeit..
Weiter führt der Inn sein grünliches Gletscherwasser vorbei an schmalen,
slachbedachten, mannigfarbigen Häusern, die mit ihrem lustigen Wirrsal
von Holzbalkonen und gemauerten Loggien den alten Völkerweg aus
Wälschland über den Brenner und dann innabwärtS genommen zu haben
scheinen, um auf dieser Lände gleichsam angeschwemmt im deutschen
Boden neu zu verwurzeln. Hinter und über der nur vom malerischen
Jnntor mit seiner gebleckten Brückenzunge durchbrochenen Häuserfront
spannt sich kulissenhast unwahrscheinlich und dennoch packend wirklich
das wild zerfressene und hold durchgrünte Duerband der Steilwände
durch den Sattelturm der Domkirche und durch den Epitzturm der
Frauenkirche harmonisch gedrittelt. Jahrtausende lang hat in den viel-
tausendjährigen Moränenschutt des urzeitlichen JnngletscherS sein „wilder
Nachfahre", der Inn, ein kilometerbreites und fast hundert Meter tiefeg
Dreiviertelrund geschürft, um endlich sich in unfern Tagen dem Glanz-
und Schaustück dieses gigantischen Amphitheaters, der schönen Stadt
Wasserburg, demütig zu Füßen zu schmiegen wie die apokalyptische
Schlange dem triumphierenden Weibe. Dort, hinter deiii schmalen Höhen-
rücken, der sich von der Inselstadt als einzige Festlandsverbindung zum
linken Jnnufer hinanzieht, siehst du zum zweitenmal den Inn. Knapp
bevor er den Linkskreis um die Stadt völlig geschlossen hat, wendet er

sich schroff rechts gen Mitternacht zwischen
sanftere, bis herab grünbewaldete Hänge bohrt
er entweichend das schillernde Schlangenhaupt.
So vollendet schön ist von hier oben der him-
melweite Ausblick auf das leicht gewellte,
fruchtbare Land über und hinter den grauen
Steilwänden, so vollkommen scheint, von hier
aus gesehen, die ganze Welt...

„Die ganze Welt ier", schnappen die Schluß-
worte des vorhin gelesenen Spruches wie ein
Schnallendorn hinein in das laufende Band der
Gedanken. Du kommst nicht mehr loS und
sinnst von neuein jenem Spruche nach, seinem
Urheber, dem Anlaß seines Entstehens.

„Pater est, quem nuptiae demonstrant“
hörst du eine eintönige, trockene Stimme. Er-
staunt blickst du auf. Neben dir auf der Bank
sitzt eine hagere Gestalt. Sie ist nicht mit Her-
melin und Purpur angetan, sondern trägt eine
glatte schwarze Robe. Unter dom schwarzen
Barett sind aus dem pergamentfarbigen, fal-
tigen Antlitz zwei graue, kurzsichtige Augen
durch die scharfen Gläser einer großen Brille
auf dich gerichtet. „Es geht nicht an, auf
Grund dubioser Ähnlichkeiten mit einem supo-
nierten adulter die Ehelichkeit eines Kindes vier
Jahre nach dessen Geburt anzusechten. Die
appellatio deS dicti Greiderer, Kaufmannes
und Bürgers in der landesherrlichen Stadt
Wasserburg am Inn, ist zu Kosten appellantis
Item ist dem Vater von appellanüS

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DER*i\D niTv?ENEn*GSVrCH \ch

DiEDREV* GESCHiftA^CHÖ
PIE-GANNQEN-WEIT' i

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abzuweisen.
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Otto Mittler: Ein alter Spruch in einer alten Stadt
[nicht signierter Beitrag]: Illustration zum Text "Ein alter Spruch in einer alten Stadt"
 
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