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FRANZ FRIEDRICH OBERHÄUSER:

DAS SEIL

„Justina", sagte Herr Karl Honorat Briggs
bald nach dem Mittagessen, „ziehe die Kinder
an, wir werden einen Ausflug machen. Übri-
gens, wir werden jetzt öfter einen Ausflug
machen!"

„Aber, Honorat!" gab sie zurück, „heute ist
doch Mittwoch!"

„WaS schadet daS schon? Ich Hab doch
eine Menge Zeit, waS soll ich mit der Zeit
anfangen? Ich denke, ich werde mich von nun
an mehr um die Erziehung der Kinder küm-

i"

mern!

„DaS iss ganz ausgeschlossen, lieber Mann!"
sagte Frau Justina, und sie sagte eS in einein
Ton, der keine Widerrede duldete und der den-
noch warm und gütig war. Weil es eben
Justina sagte, diese immer noch stattliche,
stolze Frau, mit dem gediegenen blonden Haar,
den blauen Augen, dem reinen Gesicht und
dem gepflegten Äußeren. „Ich habe mich bis
jetzt um die Erziehung gekümmert und werde
es auch weiter so halten. Weil du jetzt plötzlich
ein Konsul außer Dienst biss, stellst du die
ganze Familie auf den Kopf!"

Er ging mit einem wenig freundlichen Gesicht
im Zimmer umher. DaS war eS ja! Das war
eS: ein Schatten begleitete ihn feit einigen
Wochen durch fein Leben; irgend etwas wurde
von seiner Seite getrennt, oder in ihm, oder .. .
waS weiß der Mensch! Erst hatte er versucht,
die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen,
aber das ging nicht, es zeigte sich, daß der
Wille ein gestrenger Herr und Prüfer ist, der
viel Arbeit und Müh verlangt. Aber, es wird
schon werden!

Frau Justina, im Grunde ihres Herzens dies
alles mitfühlend .. . wer kennt eine Frau, bis
in den kleinsten Winkel ihrer Seele! .. . hatte
die Kinder schweigend angekleidet, die Küche
ihrem Schicksal überlassen, das in der Gestalt
einer ältlichen Stundenfrau für die Ordnung
sorgte, soweit dies in einer oder zwei Stunden
möglich war. Es hatte einen Kampf gekostet,
und wieder einen Kampf, aber Herr Konsul —
damals noch nicht a. D., Karl Honorat Briggs
hatte seinen Kopf durchgesetzt und entlassen,
unentwegt entlassen, obwohl daS Gehalt das-
selbe geblieben war. Aber eS gab eine Mode,
die hieß „Zeitgemäß".

Liselotte und Karl Heinrich, die Kinder,
gingen geruhsam und hochanständig über die
Treppe hinab. Frau Justina kam hinterdrein,
und eine Weile später tauchte der Herr Konsul
auf; ein lästiges Atemschöpfen plagte ihn und
brachte es manchmal deutlich zuwege, an das
Alter zu denken. Herr Konsul Briggs gehorchte
auch sofort und dachte an daS Alter. Es war
das Alter eines gesetzten Herrn, der den uner-
warteten Abschluß des beruflichen Daseins wie
einen boshaften Ballast mit sich schleppte.

„Wohin gehen wir an diesem Tag?" fragte
Justina.

„Wir werden", atmete Herr Honorat Briggs
einige Male heftig vor sich hin, „wir werden
in die Meine Heide' fahren; dort will ich mit

den Kindern ein wenig Naturgeschichte treiben,
tlnd von dort könnten wir am Kanal entlang
wieder zum Nachmittagkaffee zu Hause zurück
sein. Wir könnten auch im Heidekrug ein-
kehren. Oder zu den Treidlern gehen, die die
schweren Kähne ziehen!"

„DaS kannst du halten, wie du willst,
Honorat. Ich denke mir nur, daß eS vielleicht
doch irgendeine Möglichkeit geben müßte, die
dich auf andere Gedanken bringt. Diese Aus-

Es wissen die Blätter, die falle?i
Den Weg in die Heimat tief
In des Abends geöffneten Hallen
Kein Blatt die Liebe verschlief.

Die Farben in Seligkeit gluten
Oder dunkeln ein leises „Vollbracht“
Die roten Beeren sie bluten
Ein leuchtendes Amen zur Nacht.

flüge dürfen nicht zur Alltäglichkeit werden!"
sagte Justina mit mildem Vorwurf. „Hier ist
die Tram, steigt ein!"

Es dauerte keine halbe Stunde, da waren sie
im Freien. Die „Kleine Heide" fing hinter
einigen ländlichen Katen an; noch tastete der
frühe Sommer über die Gräser. Die Birken
standen dünn und hellgrün belaubt, fast durch-
sichtig und zart gegen den blauen Himmel. Herr-
Konsul Briggs ließ die Kinder vorausgehen und
kam mit seiner Frau langsam hinterher. Es
ging nicht so rasch.

„Sonderbar", sagte er, „wie sich die Luft im
Laufe eines Menfchenalterö ändert!"

„Das ist nicht die Luft, lieber Honorat, das
bist du!"

„Ich? Du mußt immer alles so deutlich
machen!"

„Du hattest doch auch immer dasselbe getan.
Oft zu viel, oft zu wenig, verzeihe, daß ich dir
das sage. Aber ein Ausflug lockert die Gefühle!"

Er blickte sie etwas von der Seite an und
blieb stehen; er hatte Justina sehr im Verdacht,
daß sie ihn von der Durchführung weiterer AuS-

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Register
[nicht signierter Beitrag]: Herbstlied
Franz Friedrich Oberhauser: Das Seil
Rudolf Lengrüsser: Halbakt
 
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