Haus im Herbst
Hermann Mayrhofer-Passau
DER GLEISGANG
VON CARL CONRAD
Justus Kringel stand auf, zog aliS seiner
Tasche ein rot unfr gelb gemustertes großes
Taschentuch, faltete eS zusammen und legte eS
um den Henkel eines dunkel angelaufenen und
innen weißlich oxydierten AluminiumtöpfchenS,
darin er stch seinen Pfefferminztee bereitet hatte.
Mit der linken Hand nahm er vom Fenster-
brett eine gesprungene Taste, die dort neben
einer leeren Konservenbüchse und einem
messingenen Signalhorn stand, und goß den
dampfenden Tee hinein. Der heiße Schwaden
schlug ihm um die Hand und ins Gesicht.
Kringel zog prüfend den Duft ein. Seit er an
den Nerven zu leiden hatte, rauchte er nicht
mehr, trank nur noch leichten Pfefferminztee,
von dem er stch zugleich auch für seinen
schwachen Magen eine wohltuende Wirkung
versprach, und lebte überhaupt vegetarisch.
Seine Abendmahlzeit beispielsweise hatte aus
drei Äpfeln, einer Handvoll Haselnüssen und
drei Schnitten Schlüterbrot bestanden.
Aber trotz allem — seine nervösen Zustände
wurden eher schlimmer. Zuweilen machte ihm
sogar das Gehen Schwierigkeiten. Er hatte
dann ein seltsam schwaches, zehrendes Gefühl
in den Knien, als müsse er jeden Augenblick
niedersinken. Bis jetzt war es ihm noch jedes-
mal gelungen, diese quälende Erscheinung, die
stch meist beim Begehen der Gleise einstellte,
durch eifriges Beten zu beseitigen. Weil er
übrigens seit seiner Kindheit, da die Mutter eS
ihn gelehrt hatte, die Zahl drei für glück-
bringend hielt, vergaß er nie, das „Amen" drei-
mal zu sprechen. Aber trotz dieser Vorsorge
war eS dann, als sei daS Schwächegefühl aus
den Knien nur ein wenig höher gekrochen, bis
in seine Brust, wo es als eine äußerst unan-
genehme Angst Lobte. JustuS glaubte, das
mache seine Sündenlast, die für ihn hauptsäch-
lich in der irdischen Liebe bestand, welche er für
seine Frau empfand.
Kringel saß nun in seiner engen, überheizten
Bahnwärterbude vor dem kleinen, mit blau-
bedrucktem Wachstuch überzogenen Tisch. In
der Mitte des Tisches hatte er eine Weckuhr
stehen. Davor lag ein Plan, auf dem die blhr-
zeiten der vorüberkommenden Züge verzeichnet
waren. Links von der blhr lag eine alte, ab-
gegriffene Bibel, auf der rechten Seite stand
ein kleiner Teller mit grünen Eukalyptusbon-
bonS, die sich der ewig erkältete Bahnwärter
auf dem Wege zum Dienst stets in dem gleichen
Kramladen am Ende der Kolonie kaufte. Er
blickte ein wenig ängstlich auf diese Gegen-
stände. Wie sie aus dem Tische lagen, war eS
ihm eine heilige Ordnung. Anfangs hatte er
diese Dinge einmal zufällig so aus den Tisch
gelegt, plötzlich erlangten sie gleichsam eine
Herrschaft über ihn, und er hätte sich tod-
unglücklich gefühlt, wenn auch nur für einen
Tag die Bonbons auf der linken Seite der
Weckuhr gelegen hätten und die Bibel auf der
rechten Seite.
Er dachte: „So stehn jetzt die Sachen, und
es geht mir gut. Verändere ich die Ordnung,
wer weiß, wie es dann mit mir geht". Er hatte
das dumpfe Gefühl, als bestünde zwischen den
Dingen und seinem Schicksal irgendeine geheim-
nisvolle Beziehung. So scheute er eS auch,
allerlei Kleinigkeiten, die sich mit der Zeit in
seinen Taschen ansammelten, wie Schrauben,
Eicheln, Gutscheine und einen dünnen, schlechten
Hermann Mayrhofer-Passau
DER GLEISGANG
VON CARL CONRAD
Justus Kringel stand auf, zog aliS seiner
Tasche ein rot unfr gelb gemustertes großes
Taschentuch, faltete eS zusammen und legte eS
um den Henkel eines dunkel angelaufenen und
innen weißlich oxydierten AluminiumtöpfchenS,
darin er stch seinen Pfefferminztee bereitet hatte.
Mit der linken Hand nahm er vom Fenster-
brett eine gesprungene Taste, die dort neben
einer leeren Konservenbüchse und einem
messingenen Signalhorn stand, und goß den
dampfenden Tee hinein. Der heiße Schwaden
schlug ihm um die Hand und ins Gesicht.
Kringel zog prüfend den Duft ein. Seit er an
den Nerven zu leiden hatte, rauchte er nicht
mehr, trank nur noch leichten Pfefferminztee,
von dem er stch zugleich auch für seinen
schwachen Magen eine wohltuende Wirkung
versprach, und lebte überhaupt vegetarisch.
Seine Abendmahlzeit beispielsweise hatte aus
drei Äpfeln, einer Handvoll Haselnüssen und
drei Schnitten Schlüterbrot bestanden.
Aber trotz allem — seine nervösen Zustände
wurden eher schlimmer. Zuweilen machte ihm
sogar das Gehen Schwierigkeiten. Er hatte
dann ein seltsam schwaches, zehrendes Gefühl
in den Knien, als müsse er jeden Augenblick
niedersinken. Bis jetzt war es ihm noch jedes-
mal gelungen, diese quälende Erscheinung, die
stch meist beim Begehen der Gleise einstellte,
durch eifriges Beten zu beseitigen. Weil er
übrigens seit seiner Kindheit, da die Mutter eS
ihn gelehrt hatte, die Zahl drei für glück-
bringend hielt, vergaß er nie, das „Amen" drei-
mal zu sprechen. Aber trotz dieser Vorsorge
war eS dann, als sei daS Schwächegefühl aus
den Knien nur ein wenig höher gekrochen, bis
in seine Brust, wo es als eine äußerst unan-
genehme Angst Lobte. JustuS glaubte, das
mache seine Sündenlast, die für ihn hauptsäch-
lich in der irdischen Liebe bestand, welche er für
seine Frau empfand.
Kringel saß nun in seiner engen, überheizten
Bahnwärterbude vor dem kleinen, mit blau-
bedrucktem Wachstuch überzogenen Tisch. In
der Mitte des Tisches hatte er eine Weckuhr
stehen. Davor lag ein Plan, auf dem die blhr-
zeiten der vorüberkommenden Züge verzeichnet
waren. Links von der blhr lag eine alte, ab-
gegriffene Bibel, auf der rechten Seite stand
ein kleiner Teller mit grünen Eukalyptusbon-
bonS, die sich der ewig erkältete Bahnwärter
auf dem Wege zum Dienst stets in dem gleichen
Kramladen am Ende der Kolonie kaufte. Er
blickte ein wenig ängstlich auf diese Gegen-
stände. Wie sie aus dem Tische lagen, war eS
ihm eine heilige Ordnung. Anfangs hatte er
diese Dinge einmal zufällig so aus den Tisch
gelegt, plötzlich erlangten sie gleichsam eine
Herrschaft über ihn, und er hätte sich tod-
unglücklich gefühlt, wenn auch nur für einen
Tag die Bonbons auf der linken Seite der
Weckuhr gelegen hätten und die Bibel auf der
rechten Seite.
Er dachte: „So stehn jetzt die Sachen, und
es geht mir gut. Verändere ich die Ordnung,
wer weiß, wie es dann mit mir geht". Er hatte
das dumpfe Gefühl, als bestünde zwischen den
Dingen und seinem Schicksal irgendeine geheim-
nisvolle Beziehung. So scheute er eS auch,
allerlei Kleinigkeiten, die sich mit der Zeit in
seinen Taschen ansammelten, wie Schrauben,
Eicheln, Gutscheine und einen dünnen, schlechten