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Rudolf Kriesch

SENSATION IM NACHTLOKAL

EINE SELTSAME GESCHICHTE

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Die Viktoria-Var: Das Lokal. Maurice
Lapereau spielt. Direktion Dr. phil. Mondlich.

Achtzehn Ober ergeben als Surmne noch
nicht einen Menschen. Lautlos und dehnbar
wie Gummi. Eindrucksfähig nur für Rekla-
mationen . .. Jeder von ihnen ein Augen-
diagnostiker. Als einzige Lektüre lesen sie nur
die Wünsche der Gäste .. .

Vor einem Jahr ließ der Servierkellner
Fred eine Mokkatasse abrutschen. Geklirr,
Skadal, fristlose Entlassung .. . drei Kinder
mit Scharlach. Drei Stammgäste blieben
aus... Jetzt aber wieder führend, das Lokal.

Undenkbar, daß in diesen Räumen ein Zahn
schmerzt. Hier kann nichts Negatives Erlebnis
werden. Eine Art Absolutes triumphiert. Der
Leib mit allen Hinfälligkeiten wird Ornament.
BeefsteakeS verlieren den Sinn von Leichen-
teilen und werden zu gebackenem Gestirn oder
seriösem Kunstgewerbe. Über die Tische hin
hauchen nur Sortiments parfümierter Worte,
ohne Fehlfarben.

Heute Abend sitzt Herr von Hügel wieder
wie immer auf Service 6, Tisch 2. Bestecke
gleiten in der Führung seiner Hände wie
Radiergummi über das Porzellan. Der ge-
schlossene Mund dämpft radikal die Kau-
geräusche seines Gebisses.

Maurice Lapereau spielt dazu „La quatrieme
Ballade par Chopin“. Herr von Hügel ißt
Fisch. Zehn Gabelzinken zupfen das elfen-

beinerne Fleisch wie eine Harfe.. . Aber da
schmuggelt sich im zerfließenden Genießen eine
nähnadelartige Gräte über den Kontrollkontakt
seiner Lippen. Einen Augenblick lang hatte er
die Technik des SpeisenS vergessen, sich zu sehr
in eine Kluft gaumigen Affektes hingegeben,
und die Gräte steckte als falschgesetztes Gebälk
in seiner Speiseröhre.

Der Atem wurde zu Preßluft, die Augen
tropften wie Medizingläser, und das Gesicht
bekam die Röte eines Einmachglases mit Vier-
fruchtmarmelade...

Herr von Hügel pustete, kratzte, krähte, rang
mit den Armen gegen einen unsichtbaren Gegner
und hätte in diesen Sekunden für einen Eßlöffel
Luft ein Vermögen geboten .. .

Direktor Di*, phil. Mondlich sah vom Büfett
her die Katastrophe, Und erbleichte, denn die
Immunität seines Lokales war gefährdet. Er
sah den Blutdruck des Gastes zweihundert über-
steigen ...

Niemand wagte von den nächsten Tischen
her rettend den Rücken des Bedrängten zu
klopfen. Denn inzwischen hätte Herr von Hügel
der letzte Vorrat an Luft ausgehen können und
schon der nächste Schlag hätte eine Leiche
berührt... Brrrr...! Shocking ...! Jgitti-
gitt.. ! Gräßlich . . ! Bitte.. !

Direktor Dl. phil. Mondlich sammelte alle
hervortretenden Pupillen auf sich, fixierte dem
Röchelnden aufrüttelnde Haltung, KavalierS-

pflicht und Rücksicht auf sein Lokal, verbat sich
mit gespannten Mundwinkeln Blamage, Takt-
losigkeit und Schlaganfall.

Hielt den Schäumenden wie ein stürzendes
Roß am Zügel, gab ihm die Sporen und
wurde zu seinem Rückgrat...

Herrn von Hügels Blutdruck sank, die Gräte
hatte gutwillig die horizontale Lage aufgegeben
und glitt in den Magen hinab.

Die Situation war gerettet. Lächeln flog
dem Direktor des Lokales wie ein Schwarm
Brieftauben entgegen. Von diesem Augenblick
an galt er den Gästen als Diktator des Todes.

„Sterben verboten .. !" lasen die Gäste aus
seinem Gesicht ab, das von Energie über-
schwemmt schien. Mit Genugtuung erfaßten
alle, daß nun für alle Zeiten diese Lokalitäten
mit einem unüberwindlichen Stacheldraht gegen
den Tod umgeben waren.

Herrn von Hügel wurde nach Begleichung
der Zeche nahegelegt — das Lokal gütigst
meiden zu wollen.

Herr von Hügel blieb aus. Und die Diktoria-
Lar gewann. Es sprach sich in den Salons
herum: hier ist Sicherheit. „Sterben ver-

boten..!" Dort gelten noch Krankheit, Altern
und Tod als salonunfähig.

Stillschweigend fühlte man sich zwischen
diesen Wänden in den größten Gegensatz zu
Sanatorium, Spital und Leichenhalle gebracht.
Hier konnte man nie sterben. Erstens hält die
hier gepflegte Vornehmheit vor einer solchen
Entgleisung zurück, und dann war es durch die
Direktion ausdrücklich verboten. —

Rittmeister a. D. Nagel war wieder einmal
von seinem Hausarzt aufgegeben worden. Faden
um Faden in seinem Rückgrat riß. Im Bett
war er nicht mehr lange zu halten. Er hatte
herausbekommen, daß statistisch die Mehrzahl
aller Menschen in den Kissen stirbt, Und er
hatte eine Teufelsangst vor dem Tode, durch-
wanderte alle Winkel und Ecken seiner Woh-
nung, verbrachte Stunden auf der Kohlenkifte
sitzend, schlief Nächte im Ausguß. Denn von
solchen Orten waren wenig Todesfälle bekannt.

Ein Regimentskamerad erzählte ihm von der
Viktoria-Bar.

Dort starb noch keiner. Mondänität gibt
Rückgrat, Leben — und dann ist das Sterben
so gut wie verboten. Nicht ein Fall-

Rittmeister a. D. Nagel kam täglich, starb
nicht. Die Gesellschaft erzählte sich Wunder.
Darüber zu lächeln war Unbildung. Literaten
in Mystik wurden Stammgäste. Theologen
tuschelten geheimnisvoll von den Launen Gottes.
Feuilletons feuerwerkten. Die Viktoria-Bar —
ein Gnadenort... Sterben verboten .. ! Ver-
bot — übernatürliche Wirkung.. ! Unglaub-
lich .. !

Und da viele Menschen auch aus erster
Gesellschaft Angst vor dem Tode hatten, war
die Bar überfüllt bis zu den Garderoben.

Nach einem Jahr wurde in jener Ecke, wo
bisher die Logen mit Sektzwang waren, eine
Kapelle errichtet. Alle Wände wurden mit
„Sterben verboten" plakatiert... Die Räume
wurden erweitert.

Maurice Lapereau spielte jetzt ausschließ-
lich Choräle ...


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Rudolf Kriesch (Kriz): November
Ernst Hoferichter: Sensation im Nachtlokal
 
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