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3* Lauterbach

Wenn man auf einer Fahrt am Jlbenö ftaö Ae! erreicht, fraö man
sich für den Tag gestellt hat, gut, man wird darüber befriedigt sein.
Aber ungleich reizvoller dünkt mir, sich von der Lieblichkeit eines QrteS
einladen zu lasten oder der Glinst des Zufalls sich anzuvertrauen. Man
lvird dabei im Kleinen und Alltäglichen Schönheiten entdecken, die
innerlich oftmals mehr bereichern als berühmte Sehenswürdigkeiten.

Wir kamen an diesem Tag vom .schein her, den wir von Ehrenbreit-
stein herab selig rückblickend und schmerzlich abschiednehmend ein letztes
Mal gegrüßt hatten.

Montabaur und Limburg, das idyllische Wetzlar, das gepflegte
Gießen waren vorübergeglitten, Lich, Laubach. Schon flammte die
Abendsonne durchs Geäst der Laubbäume und goß rötliches Licht Über
die Waldwege. Sanft betteten sich ferne Hügel in die weiche Dämme-
rung. Die Dunkelheit kam lautlos vom Horizont her gekrochen, Stück
um Stück raubte sie den Dingen Farbe und Form. Ein kühler Wind
sprang ans. Wir sehnten uns nach einem gedeckten Tisch, einer Ruhe-
stätte in menschlicher Geborgenheit.

Ein kleines Städtchen kam in Sicht: Lauterbach. In den Bergen
des Schwarzwaldes war uns vor ein paar Tagen ein Ort gleichen
Namens begegnet, auf den wohl die Volksweise gemünzt ist: ,,z' Lauter-
bach hau i mein Strumpf verlor n". Die kleine Schwesterstadt hier am
Rande des DogelgebirgeS schien mir vom ersten Augenblick an lieb
und anheimelnd. Es ist wie bei Menschengesichtern, wir vermöchten
meist keinen Grund zu nennen und fühlen uns doch zum einen hinge-
zogen, während uns ein anderes gleichgültig läßt oder gar abstößt.

Es zeigte sich, daß die wenigen Gasthöfe und Hotels schon besetzt
waren. Man verschaffte uns in einem Bauernhaus etwas notdürftig
ein «Quartier und suchte und durch besondere Freundlichkeit und ein
reichliches Abendmahl zu entschädigen. Die Leute konnten ja nicht
wissen und ich hätte eS ihnen auch nicht erklären können, weshalb mir
gerade an diesem Qrt ein ländlich bescheidenes Unterkommen lieber war
als der übliche Hotelkomfort. Schon der Zigarettenautomat, den ich bei
einem spätabendlichen Rundgang an einem Hause bemerkte, störte mich
ein wenig in dieser Umgebung.

Es gibt moderne Konfektion und technische Erzeugnisse in den Ge-
schäften der rührigen Kreisstadt, die Straßen sind gepflastert und
beleuchtet, sogar die Presse hat ihren Sitz hier aufgeschlagen. Aber all
das fühlte ich hier nicht als wesentlich, eher — man möge mir ver-
zeihen — als notwendiges Übel.

klm so mehr entzückten mich die Hänschen, von denen ich nicht wußte,
ob ich den einen mit ihrem schmucken Fachwerk oder den andern im
Schuppenkleid bunter Schindeln den Vorzug geben sollte. Vor den

Alltägliche Geschichte

Rolf verließ die Straßenbahn, und schlen-
derte durch die abendliche Straße seiner Woh-
nung zu. Alle Tage ging er diesen Weg und
kannte ihn so genau, wie er wußte, was dann
kam: Käthe, seine Frau, empfing ihn mit
einem Kuß, der leicht nach Kaffee und Butter-
semmel schmeckte; dann setzte er sich in Hemds-
ärmeln mit der Zeitung aufs Sofa, alle Tage
auf dasselbe Plätzchen; dann kam das Abend-
brot — gekochtes Rindfleisch und Nachtisch
vom Konditor — dann begann der dicke Herr
Über ihnen seine abendlichen Turnübungen und
Jie mußten altes Papier über die Möbel breiten,
weil die Tünche von der Decke
die alte Jungfer nebenan Klavier, immer das
gleiche Stück mit den gleichen vier Fehlern;
und im Lichthof wurde wieder Gasgeruch
bemerkbar, weil irgendwo ein Rohr schadhaft
lvar... So war es alle Tage, alle Tage...

Und Rolf wußte ebenso genau, daß er ein

Türen lagen Haufen frisch duftenden Holzes, das anscheinend tagsüber
im Qrt verteilt worden war. Ein Brunnen sprudelt aus seinem
gebogenen Eisenschnabel einen Wasserstrahl, den er leise glucksend im
weiten Steinbecken wieder auffängt. Nachdenklich zittert die Stimme
der Kirchenuhr durch die Gassen. Irgendwo bellt ein Hund. Aus dem
Erkerfenster eines putzigen Spielzeughauses näselt ein Radio — ich
hätte mir Zither oder Flöte gewünscht. Ein Liebespaar verschwindet
um eine Ecke. Traumverloren kräht ein Hahn.

Abendliche Rundgänge in tinbekannten Qrten sind mir immer ein
besonderer Genuß. Vieles sinkt wesenlos zu Boden, was sich sonst
wichtig vor unS aufbauscht, uns kettet und engt. Schwebt man in
solcher Stunde nicht ein ganz klein wenig über dem Staub und den
eckigen Steinen des Weges, auch wenn man auf holprigem Kleinstadt-
pflaster wandert?

Ich entdeckte ein nettes Cafe, in dem man bei farbigem Laternenlicht
in einer Laube sitzen konnte. Als ich später meinem Nachtlager zu-
strebte, redete die Turmuhr, die mir Mitternacht verkündete, schon wie
eine lang vertraute Stimme zu mir. — —

Noch war die Sonne nach Qsten hin nur zu erahnen, als ich aus
dem Giebelfenster meiner Schlafstube Ausschau hielt. Das graue,
langsam sich hellende Zwielicht lvar mir keineSlvegS ernüchternd, es
machte mir das Gewirr der ineinander geschobenen Dächer lieb und
heimelig.

Schon regte sich's da und dort. Die ersten Kamine sandten dünne
Rauchfahnen aus ihren Dächern wie feine bläuliche Brücken, die Erden-
jchlvere mit dem unendlichen Qben verbinden. Alif dem steilen Dach,
meinem Fenster gerade gegenüber, hockte eine lveiße Katze und blinzelte
in die ersten Sonnenstrahlen. Leise ries ich das Tier. Ich glaube, es
lvar der Wunsch, irgendwie teilzuhaben an der friedlichen Gemeinschaft
da draußen. Die Katze schaute mich an, lange, unverwandt. Dann
erhob sie sich lässig und begann ihre Morgenwanderung über die
Dächer hin. Schräg unter mir öffnete sich ein Fenster, das Runzel-
gesicht einer alten Bauersfrau beugte sich über die bunt wuchernde
Blumenfülle der Pegonien und Hängenelken.

Mit einem Male jchien das Städtchen feine Geruhsamkeit abzu-
schütteln, um seine Betriebsamkeit darzutun. Ein paar Fabrikschlöte
gualmten, eine Kreissäge schmetterte ihren dröhnenden Arbeitsgesang,
gewichtig pustete eine Lokomotive durch die hügelige Landschaft.

Seufzend besann ich mich lvieder auf mich selbst. Die Weiterfahrt
lockte. Und barg doch ein leises schmerzliches Abschiednehmen von einem
lieblichen Fleck Erde, den wir in strahlender Morgenbläue zurückließen.

Viertel vor nenn seinen ganzen Mut zusam-
menraffen und den Hut nehmen lverde und

Wohin

gehst du denn schon wieder?" Und er ant-
wortete: „Nur ein wenig hinüber zu Spon-
holtzens, eine Partie Skat spielen!" Wenn er
dann um elf heimkam, schlief Käthe schon oder
erwartete ihn vorwurfsvollen Blickes. Alle
Tage, alle Tage .. .

Als er die Tür aufschloß, sah er nirgends
seine Frau. Im ganzen Zimmer lagen ihre
Sachen in größter Unordnung, Schuhe unter
den Stühlen, Kleider auf dem Sofa, Kämme
und Bürsten auf dem Tisch — das alles war
doch sonst gar nicht Käthes Gewohnheit. Am
Lichtschalter hing auffällig ein Zettel: „Lieber
Rolf! Mutter ist schwer erkrankt und hat
depeschieren lagen. Ich fahre mit dem Fünf-
uhrzng heim. DaS Fleisch steht im Eiskasten.
Hoffentlich kein Schlaganfall. Zahle morgen
früh dem Milchmann die Rechnung. Schon
vor acht Wochen war sie krank. Deine neuen

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W. P.: Alltägliche Geschichte
Franz Doll: Selbstbildnis
Lilly Frick: Z'Lauterbach
 
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