Winter FranzDoll
Die Alte schob wiederum ihr Tuch zurecht, schluchzte auf und rieb sich
die Augen. Er nahm die Pfeife auS dem Mund und beugte sich vor,
um Maria besser zu sehen, wurmelte dann etwas und zog die Mütze
tief über die Augen. Die Alte schwankte hin und her.
„Ich bin nicht wie du ... ich erinnere mich um so besser, je älter ich
werde", sagte sie. „Ich sehe unser erstes Zusammentreffen so deutlich,
wie dort den Schatten im Grase... Es war am Abend, ich hatte die
Kühe auf der Weide gemolken und sollte nun Heimtreiben... da kamst
du vorbei, auf deinem Falben, und du grüßtest mich... ich habe dich
angesehen. . . und dann hast du verlangt, ich möchte dich aus dem Milch-
eimer trinken lassen. . . Großer Gott, ich wußte nicht mehr, wie mir
war... ich liebte dich vom ersten Augenblick an! Und du erinnerst dich
wirklich nicht mehr?"
„Don welchem Abend sprichst du?" fragte er gedehnt.
„Und dann trafen wir uns auf dom Hügel hinter dem Hause meines
DaterS... ach, wie schnell ich den Weg im Nachtdunkel hinanlief! Und
du wartetest bereits auf mich!"
„Der Teufel soll mich holen, wenn ich mich an so alte Märchen
erinnere!" sagte er trotzig. „Ich kam ja kaum vom Hause fort, deS
Abends! Ich hätte dich erwartet?"
„Ach, das ist ja nicht von heute und gestern . .. vierundfünfzig Jahre
sind seither vergangen! Aber ich weiß eS noch wie heute, ich war kaum
sechzehn Jahre alt.. . und du dreiundzwanzig .. . armer Michel! WaS
haben der Branntwein und das Lotterleben aus dir gemacht!"
„Du sprichst Unsinn, Alte... trinke ich denn? Kaum ein GlaS, dann
und wann . .. und wenn eS hoch kommt, eine Flasche Whisky ..."
„Gott verzeihe dir... weißt du auch nicht, daß du viermal rm
Gefängnis warst, wegen Raufhändel. . . gar nicht zu sprechen von jenem
Tag, da du Ned Kane so übel zugereichtet hast, daß er drei Monate im
Spital lag .. . und man dich deshalb zu einem halben Jahr Gefängnis
verurteilte!"
„Mich?" fragte er erstaunt. „Im Gefängnis? Und warum denn?"
„Weil du Ned halb tot schlugst, an jenem Abend, als du mich ent-
führt hast!"
Über das Gesicht Michels huschte plötzlich ein Aufleuchten, als würde
er sich an etwas erinnern. Er ballte die Faust.
„Aha ... Ned Kaue ... ich erinnere mich jetzt an diesen Burschen.. .
der Teufel mag ihn holen! Wenn ich ihn prügelte, so hatte er es reichlich
verdient... ha... das war ein Getümmel, damals!"
Er griff nach seinem Stock und faßte ihn krampfhaft.
„Eü hat eine Zeit gegeben", grollte er, „wo ich keinen Mann der
Gemeinde fürchtete. . . mit diesen Fäusten hier hätte ich die Stärksten
erwürgt!"
„Du erinnerst dich an die Nacht, da du zu uns kamst?"
Michel starrte vor sich hin und wiegte den Kopf.
„Doch... du erinnerst dich!" sagte sie hartnäckig. „Du kamst mit
deinem Onkel und zwei Burschen aus deinem Dorf, um vom Dater
meine Hand zu erbitten . .. aber mein Dater hat gerufen: „Wenn du
glaubst, daß ich meine Tochter einem Bettler gebe, einem Trinker!"-
Denn wir hatten zehn Kühe. . . wir waren reich! Alle Leute im Dorfe
wußten, daß ich als HeiratSgut sechs Kühe, dreißig Jochen Grund und
zweihundert Goldstücke bekommen würde. . . aber mein Dater hatte mir
Ned Kane zum Bräutigam ausgesucht, und eS war auch Ned, den ich
schließlich heiratete..."
„Darüber ist mir jetzt die Pfeife ausgegangen!" sagte Michel zornig.
„DaS macht nichts, höre doch zu! Denn ich bin überzeugt, daß du eS
nicht vergessen hast.. . als ich begriff, was mein Dater wollte, habe
ich dich aufgesucht, und du hast geschworen, daß du mich entführen
würdest.. . und gerade an dem Abend, als Ned mit seinen Verwandten
gekommen war, um die Hochzeit zu besprechen, hörte man draußen
Pferdegetrappel... du warst eS, mit deinem Onkel, mit Simon/ HugueS
und einigen andern. . . und du hast geschrien: „Komm heraus, Ned
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Die Alte schob wiederum ihr Tuch zurecht, schluchzte auf und rieb sich
die Augen. Er nahm die Pfeife auS dem Mund und beugte sich vor,
um Maria besser zu sehen, wurmelte dann etwas und zog die Mütze
tief über die Augen. Die Alte schwankte hin und her.
„Ich bin nicht wie du ... ich erinnere mich um so besser, je älter ich
werde", sagte sie. „Ich sehe unser erstes Zusammentreffen so deutlich,
wie dort den Schatten im Grase... Es war am Abend, ich hatte die
Kühe auf der Weide gemolken und sollte nun Heimtreiben... da kamst
du vorbei, auf deinem Falben, und du grüßtest mich... ich habe dich
angesehen. . . und dann hast du verlangt, ich möchte dich aus dem Milch-
eimer trinken lassen. . . Großer Gott, ich wußte nicht mehr, wie mir
war... ich liebte dich vom ersten Augenblick an! Und du erinnerst dich
wirklich nicht mehr?"
„Don welchem Abend sprichst du?" fragte er gedehnt.
„Und dann trafen wir uns auf dom Hügel hinter dem Hause meines
DaterS... ach, wie schnell ich den Weg im Nachtdunkel hinanlief! Und
du wartetest bereits auf mich!"
„Der Teufel soll mich holen, wenn ich mich an so alte Märchen
erinnere!" sagte er trotzig. „Ich kam ja kaum vom Hause fort, deS
Abends! Ich hätte dich erwartet?"
„Ach, das ist ja nicht von heute und gestern . .. vierundfünfzig Jahre
sind seither vergangen! Aber ich weiß eS noch wie heute, ich war kaum
sechzehn Jahre alt.. . und du dreiundzwanzig .. . armer Michel! WaS
haben der Branntwein und das Lotterleben aus dir gemacht!"
„Du sprichst Unsinn, Alte... trinke ich denn? Kaum ein GlaS, dann
und wann . .. und wenn eS hoch kommt, eine Flasche Whisky ..."
„Gott verzeihe dir... weißt du auch nicht, daß du viermal rm
Gefängnis warst, wegen Raufhändel. . . gar nicht zu sprechen von jenem
Tag, da du Ned Kane so übel zugereichtet hast, daß er drei Monate im
Spital lag .. . und man dich deshalb zu einem halben Jahr Gefängnis
verurteilte!"
„Mich?" fragte er erstaunt. „Im Gefängnis? Und warum denn?"
„Weil du Ned halb tot schlugst, an jenem Abend, als du mich ent-
führt hast!"
Über das Gesicht Michels huschte plötzlich ein Aufleuchten, als würde
er sich an etwas erinnern. Er ballte die Faust.
„Aha ... Ned Kaue ... ich erinnere mich jetzt an diesen Burschen.. .
der Teufel mag ihn holen! Wenn ich ihn prügelte, so hatte er es reichlich
verdient... ha... das war ein Getümmel, damals!"
Er griff nach seinem Stock und faßte ihn krampfhaft.
„Eü hat eine Zeit gegeben", grollte er, „wo ich keinen Mann der
Gemeinde fürchtete. . . mit diesen Fäusten hier hätte ich die Stärksten
erwürgt!"
„Du erinnerst dich an die Nacht, da du zu uns kamst?"
Michel starrte vor sich hin und wiegte den Kopf.
„Doch... du erinnerst dich!" sagte sie hartnäckig. „Du kamst mit
deinem Onkel und zwei Burschen aus deinem Dorf, um vom Dater
meine Hand zu erbitten . .. aber mein Dater hat gerufen: „Wenn du
glaubst, daß ich meine Tochter einem Bettler gebe, einem Trinker!"-
Denn wir hatten zehn Kühe. . . wir waren reich! Alle Leute im Dorfe
wußten, daß ich als HeiratSgut sechs Kühe, dreißig Jochen Grund und
zweihundert Goldstücke bekommen würde. . . aber mein Dater hatte mir
Ned Kane zum Bräutigam ausgesucht, und eS war auch Ned, den ich
schließlich heiratete..."
„Darüber ist mir jetzt die Pfeife ausgegangen!" sagte Michel zornig.
„DaS macht nichts, höre doch zu! Denn ich bin überzeugt, daß du eS
nicht vergessen hast.. . als ich begriff, was mein Dater wollte, habe
ich dich aufgesucht, und du hast geschworen, daß du mich entführen
würdest.. . und gerade an dem Abend, als Ned mit seinen Verwandten
gekommen war, um die Hochzeit zu besprechen, hörte man draußen
Pferdegetrappel... du warst eS, mit deinem Onkel, mit Simon/ HugueS
und einigen andern. . . und du hast geschrien: „Komm heraus, Ned
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