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CARL WEISELBERGER:

DAS WELTBILD

Sei alte Geheimrat besaß etwas, daS nur
wenige Menschen in solcher Vollendung besitzen:
Ein Weltbild. Ein vollkommen geschlossenes,
in so und so viele Akten-Faszikel fix und fertig
gebundenes Weltbild. Versuchte jemand, ihn
Ln ein Gespräch zu locken, so hob der Geheim-
rat, ehe er sich äußerte, den rechten Zeigefinger,
und setzte eine Miene aus, als sagte er: Einen
Moment! Wir werden gleich Nachsehen, In
meinem Weltbild Nachsehen, klnd dann stieg er
gleichsam die Leiter seiner Gehirnregistratur
empor, um höchstpersönlich den von seinem Ge-
sprächspartner bezogenen Akt zu requirieren.
Weltbild-Neg. Nr. 672, Faszikel Z de dato
1884... Daraus stellte er zum Beispiel kate-
gorisch fest: „Die Engländer sind phlegmatisch."
— „Die Franzosen sind durch die Bank deka-
dent." .— „ Die Norweger sind die Ehrlichkeit
selber." Dagegen gab eS keine Berufung. Seine
Sätze begann er überhaupt am liebsten mit
einem generealisierenden „die" (dritte Person
pluralis): d i e Engländer, d i e Franzosen, d i e
Juristen, d i e Politiker . . . Die Einzelmenschen
bildeten sich ja bloß ein, persönliche Existenzen
zu besitzen und wandelten in Wirklichkeit nur
als Scheuten seines Welt-Schemas herum: von
der Welt entlehnte Bände atiS seinem Weltbild-
Archiv, Beispiele, nichts weiter . . .

Äußerlich war der Geheimrat scharmant.
Man glaubte, einem jovialen alten Herrn
gegenüberzusitzen, der behaglich zurückgelehnt,
fast biedermeierisch-lisbenSwürdig und kordial
aussah, aber in Wirklichkeit — man merkte eö
oft nachher mit leisem Grauen — war leben-
diges Wort gegen raschelndes Papier gestoßen,
altes, vergilbtes Papier, aus verschollenen
Schullesebüchern, klniversitätsvorlesungen, AuS-
sprüchen längst vermoderter Atitoritäten
geschöpfte, alt und gelb gewordene Weisheit,
die der Geheimrat fleißig kompiliert und kata-
logisiert durch die Jahrzehnte unverändert mit
jich fortschleppte.

Da, eines Tages geschah daS Seltsame. Die
Tochter des Geheimrats, eine überaus lebhafte
und bewegliche junge Dame, inachte eine
Europareise und hatte den bizarren Einfall,
Papa auf diese Reise mitzunehmen. Papa sollte
auch einmal aus seiner engen Gelehrtensttibe in
die weite Welt hinaus, nteinte sie.

Gattin und Tochter packten die Koffer, er
selbst packte sein Weltbild in seinen Kopf, klnd
ging auf die Reise.

Aber — merkwürdig — schon in Zürich
stimmte etwas nicht. Die Schweizer hatten
vorschriftsmäßig fachlich-trockene Menschen zu
sein, bind gerade am Züricher See saßen zwei
junge Leute, unverkennbar Schweizer, auf einer
Sank und sangen mit vor Rührung zerfließen-
der Stimme: „DasMeer erglänzte weit hinaus".
Der Geheimrat wurde auf die Schweizer böse
und drängte zur Weiterreise.

jn Basel stiegen drei Herren ins Kupee. Ein
Italiener, ein Mathematikprofessor und ein
Journalist, wie sich heransstellte. Ihr Ver-
halten war ausgesprochen weltbildwidrig!
Geradezu empörend weltbildwidrig. Der Ita-
liener wagte es, anstatt klein, schwarzhaarig
und kindlich heiter zu sein, lang, hager und
mürrisch, mit einer Glatze und hellblondem
Haarkranz dazusitzen! „Mathematiker sind
schweigsam!" „Journalisten sind geschwätzige
Leute." DaS stand aktenmäßig fest. Im Welt-
bild-Archiv. Aber die hier — — — Der
Mathematikprofessor vergaß sich so weit,
ununterbrochen zu schwätzen, während der
Journalist von Basel bis Paris mit hermetisch-
verschlossenem Munde dasaß, ein schweigender
Mönch vom hl. Berge Athos!

1 tnb erst Paris! Fast unheimlich, wie eine
Verschwörung fing es an. Gleich bei der An-
kunft auf der Oare de l'Est saß eine franzö-
sische Mutter breit und schwer auf einer Bank,
mit vier Kindern, daS fünfte an der Brust —
Sinnbild der Fruchtbarkeit und des Kinder-
segens!

blnd draußen, in der Rae de Strasbourg,
geriet er in eine widerliche Straßenszene: Zwei
junge Burschen hatten ihre Jacken atiSgezogen
und bearbeiteten ihre stämmigen, sonnverbrann-
ten Körper mit stilgerechten Boxhieben, wobei
sie derbkräftige Dialektworte von der Ur-
wüchsigkeit Rabelais' ausstießen. . . blnd dabei
hatten sie doch „durch die Bank dekadent" zu
sein! Laut Weltbild, Akt Nummer soundsoviel.

„Komm, meine Tochter!" sagte der Geheim-
rat empört. „Die Franzosen sind in ihrer
Dekadenz schon so weit gegangen, daß sie ihrer
wirklichen Natur untreu geworden und bereits
nicht mehr dekadent sind!"

Aus Schritt tmd Tritt gab es Verstöße:
Franzosen ohne Schnurrbärte, unelegante Fran-
zösinnen, Friseure, die unhöflich waren und
Postbeamte, die höflich „danke" sagten . . .

Er hatte genug von Paris, vom Kontinent,
und dampfte mit seiner Tochter nach England
hinüber. Führte sie am ersten Tag ihrer An-
kunft in London in den Hydepark. Der Ge-
heimrat wußte ganz genau, obwohl er eigent-
lich das erstemal in London war, wie der Hyde-
park auszusehen hatte: auf den Bänken magere
Pastorentöchter, die Strümpfe strickten, auf den
Mietstühlen alte Herren mit weißen Bartkote-
lettes, kühl-phlegmatisch die „Times" lesend, ein
baumlanger, behelmter Echutzntann, der sich
gutmütig lächelnd zu einer Gruppe spielender
Kinder herabbeugt. . .

In der Tat! Gleich beim Eingang kant
ihnen der baumlange Tommy entgegen. Nicht
einer — fünf, sechs baumlange Tommys auf
einmal! Sie eskortierten eine Schar wildauf-
geregter Frauen, die hysterische Schreie aus-
1 ließen, die Zähne fletschten, mit den Füßen
gegen die TommyS stießen, sie in die Arme
bissen. Die alten kühl-phlegntatischen Herren
mit den würdigen Bartkotelettes waren auch
da, fuchtelten aber aufgeregt mit den groß-
mächtigen „Times" und sahen ganz danach
atiS, als ob sie jich in die Amtshandltmg ein-
mengen wollten!

Der Geheimrat faßte seine Tochter beim
Arm: „Komm! Die Engländer demonstrieren
im Hydepark. Die Engländer ntischen sich in
Amtshandltingen ein. Die Engländer! Anstatt
kühl und phlegmatisch zu sein."

Er hatte genug von England. Sie fuhren
nach Edinbtirgh hinauf, um sich von dort direkt
nach dem reineren Norden einzuschiffen. Aber
der Geheimrat hatte Glück. Im Kupee, noch
im Londoner Bahnhof, lernte er einen N 0 r -
weg e r kennen. Einen richtigen Norweger,
lvie er im Weltbild stand: hochgewachsen,
blond, blauäugig, sehr reserviert. Immerhin
stellte er sich vor: Doktor Henrik Ljörreson.
Knapp vor der Abfahrt fiel ihm ein, daß er
rasch fünf Pfund brauche. Er war in furcht-
barer Verlegenheit, hatte nur atisländische
Noten bei sich. Zum Wechseln im Bahnhof
war eS bereits zu spät. Ob ihm nicht der Herr
bloß für ein paar Minuten mit fünf Pfund
aushelfen könnte, er werde sofort im Epeise-
lvagen wechseln... Er zeigte seinen norwegi-
schen Reisepaß.. . Gar nicht nötig! Der Ge-
heimrat kannte seine Norweger: Er wußte, daß
die Norweger die Ehrlichkeit selber seien und
überreichte ihm mit zuvorkommendem Lächeln
den gewünschten Betrag.

Fünf Minuten vergingen. Zehn Minuten.
Der Norweger Fani nicht. Der Zug schob sich
aus der Halle. Der Geheimrat wtirde allmäh-
lich beunruhigt. Eine, zwei Sttmden vergingen.
Man suchte die KupeeS ab. Herr Doktor
Henrik Björrefon war nicht im Zuge... DaS
schlug dem Faß den Boden auö!

Der Geheimrat war erschüttert. Weniger

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Erwin v. Kreibig: Das Weltbild
Erwin v. Kreibig: Tanz
 
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