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ALLE SAGEN DIE WAHRHEIT

N>„ QÜ.IIJm J?Ai,U.

Vir lvaren eine kleine, reizende ©efcll) cf^oft
bei Holstens. Ich sage das nicht so leicht: eine
kleine, reizende Gesellschaft; aber bei Holstens
ist es immer entzückend. Holstens laden nur
ausgesuchte Leute ein. Leute von Lebensart und
tadellosen Allüren. Es geht immer so sordiniert
zu an den Abenden bei Generalkonsul Holsten.
Die Gastgeber bewirten mit vollen Händen, die
Gäste sagen sich nur Liebenswürdigkeiten und
das HauSpersonal ist bestrickend.

Vir saßen also wieder einmal beisammen:
Herr und Frau Holsten, selbstverständlich, der
Bankdirektor Primer mit seiner jungen Frau,
der Rennfahrer Vinci mit den zehn Rekorden,
die kleine Soubrette Putzi Putzani, der Bühnen-
verleger Drehmann und ich. Wir konversierten
bestrickend, ganz große Welt, und sagten einan-
der nur daS, was jeder gerne hören wollte.

Einer fehlte, der sonst auch immer zugegen
war: Dr. Paudler, der berühmte Serologe.
Aber Dr. Paudler hatte sich entschuldigen
lassen. Starke berufliche Inanspruchnahme.
Wir sollten ruhig essen, ließ er uns sagen, er
würde sich spätestens zum Nachtisch servieren.

Und so war es auch. Als wir beim Eis
hielten, betrat Dr. Paudler das Eßzimmer. Er
sah müde und abgespannt aus, jedenfalls ernster
als sonst. Wir bestürmten ihn mit Fragen,
aber er wollte den Grund seiner deutlichen Ver-
stimmung nicht angeben. Aber schließlich mußte
er doch mit einer Erklärung Herausrücken: „Ich
muß Ihnen, meine sehr Verehrten, leider eine
Mitteilung machen, die ich lieber bei mir
behalten hätte. In unserer Stadt ist eine
^yphuSepidemie auSgebrochen, und Sie können
sich denken, daß ich, als Serologe, jetzt sehr in
Anspruch genommen bin."

Lähmendes Entsetzen legte sich über unsere
vorher so heitere Gesellschaft. Alle waren bleich,
aber niemand sprach ein Wort. Dr. Paudler
lächelte schwach und fuhr fort: „Sie müssen
aber nicht erschrecken, meine Verehrten. Die
Medizin ist heute glücklicherweise so weit, diese
Krankheit durch eine einfache Injektion un-
schädlich zu machen, bind deshalb habe ich
gleich das Serum mitgebracht. Wenn sie sich
entschließen wollen, sich nur für zwei Minuten
meiner Behandlung anzuvertrauen, sind Sie
gegen alle Gefahren immun."

Wir atmeten schon wieder auf. Alle waren
selbstverständlich damit einverstanden, sich von
Dr. Paudler die rettende Injektion machen zu
lassen. Der Forscher improvisierte einen Be-
handlungsraum im Herrenzimmer, und einer
nach dem andern verließ es mit neuen Hoff-
nungen. Als letzter kam ich daran und hielt
dem Arzt meinen entblößten Arm hin. Aber er
sagte nur „Unsinn!" und zündete sich eine seiner
englischen Zigaretten an, die stets einen so
beizenden Rauch verbreiteten. „Unsinn!" wie-
derholte er. „Sie sollen in die Angelegenheit
eingeweiht werden. Sehen Sie sich bitte und
geben Sie acht. Wir haben gar keinen Typhus

in der Stadt. Den habe ich glatt erfunden. Es
handelt sich um ein anderes Experiment. Ich
weiß nicht, ob Sie schon von der neuen, sensa-
tionellen Entdeckung des italienischen Forschers
Dario Baroni gelesen haben. Noch nicht?
Dann will ich Ihnen die Sache kurz auSein-
andersetzen. Dario Baroni hat ein Serum
gefunden, das sogenannte ,Wahrheitsserum'.
Wenn eS einem Menschen injiziert wird, ist der
Betreffende durch ungefähr eine halbe Stunde
nicht mehr iinstande, eine Lüge zu reden. Er
muß — unter allen Umständen — die Wahr-
heit sagen. Es handelt sich nämlich um einen
Extrakt, der aus einer mexikanischen Pflanze
gewonnen wird, das sogenannte MeScalin, das
in einer Dosis von 0,1 bis 0,2 Gramm ein-
gespritzt wird. Die Sache ist an sich ganz ein-
fach. Man könnte sie beinahe das Ei des
Kolumbus nennen. Das MeScalin im Blute
räumt gewisse Hemmungen hinweg, und alles,
waS zutiefst in den Menschen schlummert, tritt
hemmungslos zutage. So, und jetzt wollen wir
zur Gesellschaft gehen und sehen, wie sich unser
Verkehr gestaltet, wenn alle Anwesenden die
Wahrheit sprechen müssen. Ich habe nämlich
allen, die Dienerschaft eingeschlossen, o,i Gramm
MeScalin injiziert. DaS dürfte für die nächste

halbe Stunde genügen. Nur dem Bühnenver-
leger habe ich 0,2 gegeben; der ist ein etwas
schwierigerer Fa ll."

Wir traten in den Salon, wohin sich die
Gesellschaft inzwischen begeben hatte. Alle
saßen mit sehr ernsten Mienen da. Geredet
wurde nichts. Menschen, die die Wahrheit
sprechen, sind immer sehr schweigsam. DaS
Mädchen reichte Cocktails herum. Es blieb vor
jedem stehen und ging nur an dem Bühnenver-
leger Drehmann vorbei, ohne ihm ein GlaS
anzubieten. „Ihnen gönne ich keinen Cocktail",
sagte sie, „weil Sie mir nie ein Trinkgeld geben,
obwohl es mir zukommt. Sie verwechseln mich
wohl mit Ihren Autoren." — „Sie irren,
Fräulein", erwiderte der Bühnenverleger.
„Meinen Autoren gebe ich immer nur ein
Trinkgeld von dem was ihnen zukommt."
Dr. Paudler blickte mich vielsagend an; seine
Wahrheirsinjektionen hatten bereits gewirkt.

Plötzlich schrie Frau Bankdirektor Primer,
zum Rennfahrer Vinci gewandt, auf: „Du

hättest mich heute nachmitag nicht küssen sollen,
Enrico! Jetzt, in der Typhuszeit, küßt man
sich doch nicht!" Alle saßen starr, und der Herr
Bankdirektor Primer fragte drohend: „Sie

Benzinasfe — seit wann küssen Sie meine
Frau?" — „Seit einem Jahr", antwortete der
Benzinasfe treuherzig. Herr Primer war natür-
lich außer sich und meinte zur Soubrette Putzi
Putzani: „Was sagst du, Liebling? Wir beide
haben unser Verhältnis ganz heimlich — und
meine Frau erklärt in offener Gesellschaft, daß
sie der Rennfahrer küßt?" Putzi lächelte und
sagte: „Unglaublich! Jetzt bin ich fünfund-
vierzig Jahre alt geworden — aber so etwas
ist mir noch nicht vorgekommen." — „Doch",
erklärte der Bühnenverleger. „In einem Stück
meines Autors Kecskemeti kommt eine ähnliche
Situation vor. Sie kennen das Stück unter
dem Pseudonym Garrickwell. Aber in Wirklich-
keit ist es von Kecskemeti. Warum soll ich nicht
ausnahmsweise die Wahrheit sagen?"

Der Hausherr schüttelte den Kopf und
meinte zu seiner Frau: „Wie unmöglich sich diese
Leute benehmen! Ich habe dir doch schon immer
gesagt, daß man ein solches Gesindel nicht ein-
ladet." — „Was willst du tun?" erwiderte die
Hausfrau. „Unser Sohn Erwin schreibt doch
jetzt eine Operette. Die Leute haben Einfluß.
Da muß man sich doch von ihnen arm essen
lassen. Gern tut manS ja ohnehin nicht. Aber
ich werde froh sein, wenn diese Parasiten schon
zum Ausbruch rüsten." Und der Verleger
Drehmann warf ein: „Sie bemühen sich ganz
umsonst. Ihr Sohn Erwin ist ein talentloser
Bursche. Wir denken ja gar nicht daran, uns
für seinen Schmarren einzusetzen. Ihr Essen,
ihre Weine und ihre Cocktails schmecken uns.
Deshalb kommen wir. Aber lvenn wir zur
Türe draußen sind, lachen wir herzlich über
ihre krampfhaften Versuche, diesen Bengel
durchzusetzen."

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Register
Wilhelm Lichtenberg: Alle sagen die Wahrheit
v. Velden: Nachtwandler
 
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