mit dem Leinentuch und schmunzelt. Jetzt muß etwas Besonderes kom-
men _ und eS kommt auch. Aber die Wette mit Schücking loird sie ver-
lieren! Nicht wahr, Herr Bibliothekar, erzählten Sie nickt, Annette
habe zugesagt, in einem Winter einen ganzen Gedicktband zu schreiben!
Ja, ja, die Jugend besiegt inan schwerer als das Alter!"
Schücking wird verlegen. In Annettes Wangen schießt eine plötzliche
Röte. Sind die Worte des Alten nicht beinahe doppelsinnig? Schnell,
schnell einen Ausweg, damit niemand am Tisch merkt, wie sie des Frei-
herrn Rede empfunden!
„Oh, wenn es nur das isi!" lacht sie, Fassung erkämpsend. „Herr
Schücking wird die Wette verlieren. Denn zwei Gedichte habe ich von
gestern auf heute schon geschrieben?"
„Das müssen wir hören!" ruft Schücking übermütig.
„ Ich weiß nicht", will Annette ausweichen. „Ob an diesem Abend. . ."
„Doch!" drängt nun auch die Schwester. „Sonst könnte ja Herr
Schücking immer noch glauben, die Wette gewonnen zu haben!"
Gut, so nimmt Annette auö ihrem Handtäschchen zwei beschriebene
Blätter und man lauscht ihrem gedämpften Dortrag, der ihre zitternde,
suchende und in allem Mühen so große Seele enthüllt. Das zweite
Gedicht klingt auS:
Sieh her, nicht eine Hand dir nur,
ich reiche beide dir entgegen,
zum Leiten auf verlorener Spur,
zum Liebesspenden und zum Segen.
Nur ehre ihn, der angefacht
das Lebenslicht an meiner Wiege,
nimm mich, wie Gott mich hat geinacht
und leih mir keine fremden Züge!
Es ist ein langes Schweigen in der kleinen Runde, während die Kerzen
nach und nach verflackern. Schücking steht auf, die zuletzt verglimmenden
auözublasen. Ihm hat sich etwas von der inneren Bewegung Annettes
mitgeteilt. Er muß wohl spüren, wie eS um sie steht, wie sie seine mehr
tändelnden, spielerischen Bemühungen der letzten Wochen, ihr Vertrauen
und ihre Zuneigung zu gewinnen, ausgenommen hat. In diesem Augen-
blick wird ihm bewußt, daß er ein gefährliches Spiel treibt — er, der
junge, selbstsichere, weltgewandte Plauderer hat nicht eine F r a u er-
obert — darum war eS ihm zu tun — eine Seele ist ihm ganz verfallen
„Nun, Herr Bibliothekar!" poltert der Freiherr fröhlich los. „Da
haben Eie s! Meine Schwägerin ist Ihnen eben doch überlegen — nicht
allein, scheint mir, im Gedichte machen. Ihre Meisterschaft auf diesem
Gebiet sollten sie anerkennen. Auch aber ihre Erfahrung ist reifer als die
Ihre — der Sie noch ein ganzes Leben des Lernens und PlanenS vor
sich haben..."
bim irgend etwas zu sagen, erwidert Schücking verlegen:
„Ich beuge mich und bekenne mich geschlagen! Die siebzehn Jahre, die
ich jünger bin, als Fräulein von Droste. ..", er beißt sich auf die Lippen
und beendet den Satz nicht. Erst jetzt merkt er, w a s er eben aus-
gesprochen, welche Kluft er aufgerissen hat und wendet sich schnell noch-
inalö dem Baum zu.
„Ich bin wirklich müde", sagt Annette mit verkrampftem Lächeln.
„Der Tag hat doch viele Spannungen gebracht. Gute Nacht, liebe
Schwester", gute Nacht, Schwager. Gute Nacht, Herr Schücking!"
Auch er verbeugt sich und nimmt nochmals ihre Hand.
„Verzeihen Sie mir... ich muß mich erst daran gewöhnen, ein junger
Taps zu sein und von Ihnen Herzensbildung zu lernen ..."
Die Droste blickt wägend und warm zugleich in seine ehrgeizig und
auch jetzt noch etwas kühl funkelnden Augen. Um ihren herben Mund
huscht wieder jenes kleine Lächeln, das in seltenen Augenblicken ihr läng-
lich gezeichnetes Antlitz zu dem einer Madonna macht.
„Ich sollte Ihnen etwas zu vergeben haben? Nein, Schücking. . .",
zum erstenmal läßt sie das „Herr" mit Bewußtsein fort auS der hem-
menden Anrede. „Ich danke Ihnen. Ich batte heute ganz vergessen, daß
ich eine kranke Frau bin. Aber ehe mein Leben zu Ende geht, muß i ch
gelernt haben, daß es für mich noch eine große Aufgabe im Leben geben
wird. Die Ausgabe, Ihnen eine zweite Mutter zu werden. Ich bin wohl
schon auf dem Wege dazu, denn seit heute verstehe ich Sie ganz, mein
Lieber. Gute Nacht — und morgen wollen wir fröhlich erwachen!"
Selbst der fast taube Freiherr spürt, ohne die Worte zu verstehen, das'
Schicksal dieser Szene. Seine Frau blickt der hinausgehenden Schwesteo
liebevoll nach. Arme, stvlze, wundervolle Annette! denkt sie. Und
Schücking sitzt traumverloren in einem Sessel neben dem harzigen Weih-
nachtsbaum und sinnt und sinnt. . .
Sein Schicksal vollendet sich, und auch das Annettes.
An diesem Weihnachtsabend des Jahres 16^1, da sie ihre große Liebe
und ihre große Entsagung zugleich fand, beginnt jene einzigartige Freund-
schaft zwischen ihr und Schücking, für die es in der Welt nie ein Beispiel
gab. Jene Freundschaft, die Annette von Droste-Hülshosfs seltenes Herz
so reich inachte, weil eS ganz und ohne Gegengabe opferte.
Oerlod und der Truthahn
Eine weihnachtliche Geschichte
Von Hans Serönsen
AuS der Hauptstadt eines Landes im Süd-
osten Europas wird uns eine ergötzliche Ge-
schichte berichtet, deren Glaubwürdigkeit durch
die Sicherheit der Ouelle erwiesen ist. Weih-
nachten stand nahe vor der Tür, als sich, ein
Attache der — — Gesandtschaft in 3E. und
seine Frau dafür entschieden, atlch in diesem
Jahre nach der Väter Sitte auS der fernen
Heimat ein Exemplar jenes als cholerisch
bekannten Gflügels kommen zu lasten, das im
zuständigen Wörterbuch als „turhev" bezeichnet
ist. Der auserkorene Festbraten kam nach er-
folgreicher Durchquerung mehrerer Staaten
kollernd über die Grenze und erreichte auch
wohlbehalten und zu guter Zeit 3:., denn mitt-
lerweile war es Weihnachten geworden. Am
Vortage des Festes wollte man — der Name
Unglücklichen sei nunmehr genannt — zur
Tötung des Truthahns schreiten. Es erwies
sid) jedoch, das; kein Hausbewohner, mit Ein-
beziehung des Attaches und seiner Gemahlin,
gelvillt war, den Truthahn vom Leben zum
-Ll-'de zu bringen. Ein glänzender Beweis für
Fluch! Bauernmalerei
Weißnac/ot
In der heiligen Nacht
bat a Sternei herglacht,
hat grad blinzelt und glanzt
und die Engerl Ham tanzt,
und a Musi hams gmacht
weil im Stall in der Nacht
iS a Kindl geborn,
des der Heiland iS wordn.
(Altbayerifch.)
die Humanität unserer Zeit! Durch einen vor-
trefflichen Gedanken wurde die Szene aber
doch noch zum Tribunal und es war die Frau
des Hauses, welche alle Schwierigkeiten behob,
indent sie einen Strickbeutel herbeiholen ließ —
es gibt ihn also noch — und diesen bis zur
Hälfte mit Watte anfüllen hieß. Die Raffi-
nesse des Plans tritt aber erst zutage, wenn
nun gesagt wird, daß man die Watte reichlich
mit Chloroform durchtränkte und den ganzen
Apparat alsbald dem Delinquenten über den
Kopf stülpte. Denn so, überlegte man, werde
der Szene das hochnotpeinliche und dem Delin-
quenten die Qual der letzten Augenblicke er-
spart. blnd wirklich sank das Tier wie gefällt
zu Boden. Sogleich trug man es in die Küche,
und, nachdem die Köchin es gerupft hatte, in
die Speisekammer. Damit schien also das
Festmahl sichergestellt zu sein und die Gattin
des Attaches konnte beruhigt die letzten Ein-
käufe in der Stadt machen. In ihrem Hause
jedoch erreichten die Geschehnisse um den Fest-
braten alsbald einen Höhepunkt, dem sie bei
der Rückkehr fastungslvS gegenüberstand. Sie
erblickte nämlich unten im Treppenhaus die
zahlreiche männliche und weibliche Dienerschaft
in einer Ecke zusammengedrängt, Gebete mur-
melnd und sich bekreuzigend wie vor dem leib-
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men _ und eS kommt auch. Aber die Wette mit Schücking loird sie ver-
lieren! Nicht wahr, Herr Bibliothekar, erzählten Sie nickt, Annette
habe zugesagt, in einem Winter einen ganzen Gedicktband zu schreiben!
Ja, ja, die Jugend besiegt inan schwerer als das Alter!"
Schücking wird verlegen. In Annettes Wangen schießt eine plötzliche
Röte. Sind die Worte des Alten nicht beinahe doppelsinnig? Schnell,
schnell einen Ausweg, damit niemand am Tisch merkt, wie sie des Frei-
herrn Rede empfunden!
„Oh, wenn es nur das isi!" lacht sie, Fassung erkämpsend. „Herr
Schücking wird die Wette verlieren. Denn zwei Gedichte habe ich von
gestern auf heute schon geschrieben?"
„Das müssen wir hören!" ruft Schücking übermütig.
„ Ich weiß nicht", will Annette ausweichen. „Ob an diesem Abend. . ."
„Doch!" drängt nun auch die Schwester. „Sonst könnte ja Herr
Schücking immer noch glauben, die Wette gewonnen zu haben!"
Gut, so nimmt Annette auö ihrem Handtäschchen zwei beschriebene
Blätter und man lauscht ihrem gedämpften Dortrag, der ihre zitternde,
suchende und in allem Mühen so große Seele enthüllt. Das zweite
Gedicht klingt auS:
Sieh her, nicht eine Hand dir nur,
ich reiche beide dir entgegen,
zum Leiten auf verlorener Spur,
zum Liebesspenden und zum Segen.
Nur ehre ihn, der angefacht
das Lebenslicht an meiner Wiege,
nimm mich, wie Gott mich hat geinacht
und leih mir keine fremden Züge!
Es ist ein langes Schweigen in der kleinen Runde, während die Kerzen
nach und nach verflackern. Schücking steht auf, die zuletzt verglimmenden
auözublasen. Ihm hat sich etwas von der inneren Bewegung Annettes
mitgeteilt. Er muß wohl spüren, wie eS um sie steht, wie sie seine mehr
tändelnden, spielerischen Bemühungen der letzten Wochen, ihr Vertrauen
und ihre Zuneigung zu gewinnen, ausgenommen hat. In diesem Augen-
blick wird ihm bewußt, daß er ein gefährliches Spiel treibt — er, der
junge, selbstsichere, weltgewandte Plauderer hat nicht eine F r a u er-
obert — darum war eS ihm zu tun — eine Seele ist ihm ganz verfallen
„Nun, Herr Bibliothekar!" poltert der Freiherr fröhlich los. „Da
haben Eie s! Meine Schwägerin ist Ihnen eben doch überlegen — nicht
allein, scheint mir, im Gedichte machen. Ihre Meisterschaft auf diesem
Gebiet sollten sie anerkennen. Auch aber ihre Erfahrung ist reifer als die
Ihre — der Sie noch ein ganzes Leben des Lernens und PlanenS vor
sich haben..."
bim irgend etwas zu sagen, erwidert Schücking verlegen:
„Ich beuge mich und bekenne mich geschlagen! Die siebzehn Jahre, die
ich jünger bin, als Fräulein von Droste. ..", er beißt sich auf die Lippen
und beendet den Satz nicht. Erst jetzt merkt er, w a s er eben aus-
gesprochen, welche Kluft er aufgerissen hat und wendet sich schnell noch-
inalö dem Baum zu.
„Ich bin wirklich müde", sagt Annette mit verkrampftem Lächeln.
„Der Tag hat doch viele Spannungen gebracht. Gute Nacht, liebe
Schwester", gute Nacht, Schwager. Gute Nacht, Herr Schücking!"
Auch er verbeugt sich und nimmt nochmals ihre Hand.
„Verzeihen Sie mir... ich muß mich erst daran gewöhnen, ein junger
Taps zu sein und von Ihnen Herzensbildung zu lernen ..."
Die Droste blickt wägend und warm zugleich in seine ehrgeizig und
auch jetzt noch etwas kühl funkelnden Augen. Um ihren herben Mund
huscht wieder jenes kleine Lächeln, das in seltenen Augenblicken ihr läng-
lich gezeichnetes Antlitz zu dem einer Madonna macht.
„Ich sollte Ihnen etwas zu vergeben haben? Nein, Schücking. . .",
zum erstenmal läßt sie das „Herr" mit Bewußtsein fort auS der hem-
menden Anrede. „Ich danke Ihnen. Ich batte heute ganz vergessen, daß
ich eine kranke Frau bin. Aber ehe mein Leben zu Ende geht, muß i ch
gelernt haben, daß es für mich noch eine große Aufgabe im Leben geben
wird. Die Ausgabe, Ihnen eine zweite Mutter zu werden. Ich bin wohl
schon auf dem Wege dazu, denn seit heute verstehe ich Sie ganz, mein
Lieber. Gute Nacht — und morgen wollen wir fröhlich erwachen!"
Selbst der fast taube Freiherr spürt, ohne die Worte zu verstehen, das'
Schicksal dieser Szene. Seine Frau blickt der hinausgehenden Schwesteo
liebevoll nach. Arme, stvlze, wundervolle Annette! denkt sie. Und
Schücking sitzt traumverloren in einem Sessel neben dem harzigen Weih-
nachtsbaum und sinnt und sinnt. . .
Sein Schicksal vollendet sich, und auch das Annettes.
An diesem Weihnachtsabend des Jahres 16^1, da sie ihre große Liebe
und ihre große Entsagung zugleich fand, beginnt jene einzigartige Freund-
schaft zwischen ihr und Schücking, für die es in der Welt nie ein Beispiel
gab. Jene Freundschaft, die Annette von Droste-Hülshosfs seltenes Herz
so reich inachte, weil eS ganz und ohne Gegengabe opferte.
Oerlod und der Truthahn
Eine weihnachtliche Geschichte
Von Hans Serönsen
AuS der Hauptstadt eines Landes im Süd-
osten Europas wird uns eine ergötzliche Ge-
schichte berichtet, deren Glaubwürdigkeit durch
die Sicherheit der Ouelle erwiesen ist. Weih-
nachten stand nahe vor der Tür, als sich, ein
Attache der — — Gesandtschaft in 3E. und
seine Frau dafür entschieden, atlch in diesem
Jahre nach der Väter Sitte auS der fernen
Heimat ein Exemplar jenes als cholerisch
bekannten Gflügels kommen zu lasten, das im
zuständigen Wörterbuch als „turhev" bezeichnet
ist. Der auserkorene Festbraten kam nach er-
folgreicher Durchquerung mehrerer Staaten
kollernd über die Grenze und erreichte auch
wohlbehalten und zu guter Zeit 3:., denn mitt-
lerweile war es Weihnachten geworden. Am
Vortage des Festes wollte man — der Name
Unglücklichen sei nunmehr genannt — zur
Tötung des Truthahns schreiten. Es erwies
sid) jedoch, das; kein Hausbewohner, mit Ein-
beziehung des Attaches und seiner Gemahlin,
gelvillt war, den Truthahn vom Leben zum
-Ll-'de zu bringen. Ein glänzender Beweis für
Fluch! Bauernmalerei
Weißnac/ot
In der heiligen Nacht
bat a Sternei herglacht,
hat grad blinzelt und glanzt
und die Engerl Ham tanzt,
und a Musi hams gmacht
weil im Stall in der Nacht
iS a Kindl geborn,
des der Heiland iS wordn.
(Altbayerifch.)
die Humanität unserer Zeit! Durch einen vor-
trefflichen Gedanken wurde die Szene aber
doch noch zum Tribunal und es war die Frau
des Hauses, welche alle Schwierigkeiten behob,
indent sie einen Strickbeutel herbeiholen ließ —
es gibt ihn also noch — und diesen bis zur
Hälfte mit Watte anfüllen hieß. Die Raffi-
nesse des Plans tritt aber erst zutage, wenn
nun gesagt wird, daß man die Watte reichlich
mit Chloroform durchtränkte und den ganzen
Apparat alsbald dem Delinquenten über den
Kopf stülpte. Denn so, überlegte man, werde
der Szene das hochnotpeinliche und dem Delin-
quenten die Qual der letzten Augenblicke er-
spart. blnd wirklich sank das Tier wie gefällt
zu Boden. Sogleich trug man es in die Küche,
und, nachdem die Köchin es gerupft hatte, in
die Speisekammer. Damit schien also das
Festmahl sichergestellt zu sein und die Gattin
des Attaches konnte beruhigt die letzten Ein-
käufe in der Stadt machen. In ihrem Hause
jedoch erreichten die Geschehnisse um den Fest-
braten alsbald einen Höhepunkt, dem sie bei
der Rückkehr fastungslvS gegenüberstand. Sie
erblickte nämlich unten im Treppenhaus die
zahlreiche männliche und weibliche Dienerschaft
in einer Ecke zusammengedrängt, Gebete mur-
melnd und sich bekreuzigend wie vor dem leib-
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