ID IE )R 'NEUJAHRTAG IN JAPAN
(Berechtigte Übertragung von Anna Drawe)
Für einige ist er nicht heiter.
Man muß sich an diesem Tage aller seiner
Schulden entledigen.
Venn sich in Japan wie in den Ländern des
Abendlandes das Jahresende durch ein Wachsen
des geschäftlichen Verkehres, durch gesellige
Veranstaltungen, durch Besuche und Empfänge
kennzeichnet, ahnt man nicht, daß hinter dieser
Fröhlichkeit in vielen Haushalten Sorge und
Angst herrscht. Es ist Tatsache, daß am Neu-
jahrstage, noch bevor die Sonne aufgeht, alle
häuslichen Schulden bezahlt, alle noch schwe-
benden Rechnungen geordnet sein müssen. Dies
ist Landesbrauch und mancher anderer Nationen
wird sicherlich bedauern, daß diese schöne Sitte
in seiner Heimat noch nicht eingeführt ist.
Darf ich hier ein persönliches Erlebnis er-
zählen?
Schon ein wenig mit der japanischen
Sprache vertraut, aber noch sehr wenig mit
den Sitten und Gebräuchen des Landes, hatte
ich den Einfall, am Abend des letzten Tages des
Jahres 19 .. auf den Boulevards von Tokio
zwecks Sammlung von Eindrücken spazieren zu
gehen. Welche Menschenmenge, welcher Lärm,
welche erregte Feststimmung! Paris zur Zeit
der alljährlichen kleinen Jahrmarktsbuden?
London, am Abend vor Weihnachten? Berlin
oder Wien mit seiner Feiertagshast? Die Licht-
reklamen der Geschäfte blitzten und funkelten.
Autos folgten einander in rasendem Tempo und
stauten sich bald an den Straßenecken. Tee-
häuser wurden gestürmt. Entzückt, so mitten in
das Getriebe des Ostens versetzt zu sein und die
Augen für alles Neue weit aufreißend, suchte
ich erst spät nach Mitternacht meine Wohnung
in der Dorstadt auf.
Mein alter Diener erwartete mich an der
Türschwelle. Er machte ein so trauriges Ge-
sicht, daß ich ein großes blnglück befürchtete.
„Herr", sagte er mir mit blnheil verkünden-
der Miene, „wir sind dem Milchhändler an der
Straßenecke noch ein Dutzend Eier schuldig!"
„Oh, wie wichtig! bim mir diese Nachricht
zu melden, sind Sie so lange aufgeblieben?"
"2k*/ Herr, weil diese Eier bezahlt werden
müssen. Wir haben nicht mehr viel Zeit dazu.
Da ich kein Geld hatte, konnte ich nicht zum
Händler laufen und in Ihrem Namen bezahlen,
aber eS wäre wirklich ärgerlich, wenn ein
Fremder hier im Viertel seinen guten Ruf ver-
lieren würde."
bind so mußte ich um zwei bihr morgens,
wo sonst jedes Geschäft ruhte, einen ehren-
werten Eier-, Butter- und Käsehändler bezahlen,
der sicherlich nicht zugrunde gegangen wäre,
wenn ich meine kleine Rechnung später beglichen
hätte.
Mein Fall war der aller Leute in dieser
Nacht. Die Geschäfte bleiben offen und nichts
erscheint einem durchreisenden Europäer selt-
samer, als bei einem Schneider, einem Parfü-
meur, oder einem Zuckerbäcker der feierlichen
Zeremonie einer Schuldentilgung beizuwohnen:
Mit verlegener Miene tritt der Schuldner ein,
grüßt und beginnt ein Gespräch. Zuerst spricht
er von der frühzeitigen Kälte, dem teuren
Leben, den wachsenden Schwierigkeiten des
Verkehrs. Dann kommt er zum Kernpunkt.
Er zieht seine Geldbörse aus dein Gürtel hervor
und zahlt seinem Gläubiger die Summe, die er
schuldet. Er erhält hierauf eine Empfangs-
bestätigung. Verneigungen, geräuschvolle Be-
grüßungen, Beglückwünschungen. All dies geht
nicht sehr schnell vor sich, aber hat man nicht
Zeit bis zur Morgenröte zum Austausch der
Höflichkeiten. . . und zum Bezahlen?
Viele bekannte Geschichten, deren einige nicht
ohne Pikanterie sind, erzählt zur Zeit der all-
jährlichen Schuldenzahlung einer dem andern.
Nachstehend eine der gelungensten, die in
Europa weniger bekannt ist, als in Japan,
eine Geschichte voll absonderlichen HumörS:
Am kritischen Tage kam ein Samourai sehr
würdig, aber sichtlich sorgenvoll zu seinen!
Reishändler und sprach: „Zu meiner Schande
und Verzweiflung, Herr Reishändler, kann ich
Ihnen heute den Betrag, der meine Schuld
ausmacht, nicht bezahlen. Ich weiß also, was
inir zu tun übrig bleibt, und komme, um mir
vor Ihren Augen den Bauch aufzuschlitzen."
„bim Himmels willen, Herr Samourai,
begehen Sie keine Verzweiflungstat! Ich
werde, wenn es sein muß, geduldig bis zum
näcbsten Frühjahr warten."
„blmsonst! Bin ich überdies sicher, Ihnen im
Frühjahr bezahlen zu können? Ich bringe mich
ganz einfach um und die Sache ist erledigt!"
„Nein, ich bitte Sie, es lväre sehr wenig
ritterlich von mir, aus einer so geringfügigen
bbrsache einen Kavalier wie Sie, in den Tod
zu treiben. Schauen Sie her und sehen Sie,
(Fortsetzung S. 843)
841
(Berechtigte Übertragung von Anna Drawe)
Für einige ist er nicht heiter.
Man muß sich an diesem Tage aller seiner
Schulden entledigen.
Venn sich in Japan wie in den Ländern des
Abendlandes das Jahresende durch ein Wachsen
des geschäftlichen Verkehres, durch gesellige
Veranstaltungen, durch Besuche und Empfänge
kennzeichnet, ahnt man nicht, daß hinter dieser
Fröhlichkeit in vielen Haushalten Sorge und
Angst herrscht. Es ist Tatsache, daß am Neu-
jahrstage, noch bevor die Sonne aufgeht, alle
häuslichen Schulden bezahlt, alle noch schwe-
benden Rechnungen geordnet sein müssen. Dies
ist Landesbrauch und mancher anderer Nationen
wird sicherlich bedauern, daß diese schöne Sitte
in seiner Heimat noch nicht eingeführt ist.
Darf ich hier ein persönliches Erlebnis er-
zählen?
Schon ein wenig mit der japanischen
Sprache vertraut, aber noch sehr wenig mit
den Sitten und Gebräuchen des Landes, hatte
ich den Einfall, am Abend des letzten Tages des
Jahres 19 .. auf den Boulevards von Tokio
zwecks Sammlung von Eindrücken spazieren zu
gehen. Welche Menschenmenge, welcher Lärm,
welche erregte Feststimmung! Paris zur Zeit
der alljährlichen kleinen Jahrmarktsbuden?
London, am Abend vor Weihnachten? Berlin
oder Wien mit seiner Feiertagshast? Die Licht-
reklamen der Geschäfte blitzten und funkelten.
Autos folgten einander in rasendem Tempo und
stauten sich bald an den Straßenecken. Tee-
häuser wurden gestürmt. Entzückt, so mitten in
das Getriebe des Ostens versetzt zu sein und die
Augen für alles Neue weit aufreißend, suchte
ich erst spät nach Mitternacht meine Wohnung
in der Dorstadt auf.
Mein alter Diener erwartete mich an der
Türschwelle. Er machte ein so trauriges Ge-
sicht, daß ich ein großes blnglück befürchtete.
„Herr", sagte er mir mit blnheil verkünden-
der Miene, „wir sind dem Milchhändler an der
Straßenecke noch ein Dutzend Eier schuldig!"
„Oh, wie wichtig! bim mir diese Nachricht
zu melden, sind Sie so lange aufgeblieben?"
"2k*/ Herr, weil diese Eier bezahlt werden
müssen. Wir haben nicht mehr viel Zeit dazu.
Da ich kein Geld hatte, konnte ich nicht zum
Händler laufen und in Ihrem Namen bezahlen,
aber eS wäre wirklich ärgerlich, wenn ein
Fremder hier im Viertel seinen guten Ruf ver-
lieren würde."
bind so mußte ich um zwei bihr morgens,
wo sonst jedes Geschäft ruhte, einen ehren-
werten Eier-, Butter- und Käsehändler bezahlen,
der sicherlich nicht zugrunde gegangen wäre,
wenn ich meine kleine Rechnung später beglichen
hätte.
Mein Fall war der aller Leute in dieser
Nacht. Die Geschäfte bleiben offen und nichts
erscheint einem durchreisenden Europäer selt-
samer, als bei einem Schneider, einem Parfü-
meur, oder einem Zuckerbäcker der feierlichen
Zeremonie einer Schuldentilgung beizuwohnen:
Mit verlegener Miene tritt der Schuldner ein,
grüßt und beginnt ein Gespräch. Zuerst spricht
er von der frühzeitigen Kälte, dem teuren
Leben, den wachsenden Schwierigkeiten des
Verkehrs. Dann kommt er zum Kernpunkt.
Er zieht seine Geldbörse aus dein Gürtel hervor
und zahlt seinem Gläubiger die Summe, die er
schuldet. Er erhält hierauf eine Empfangs-
bestätigung. Verneigungen, geräuschvolle Be-
grüßungen, Beglückwünschungen. All dies geht
nicht sehr schnell vor sich, aber hat man nicht
Zeit bis zur Morgenröte zum Austausch der
Höflichkeiten. . . und zum Bezahlen?
Viele bekannte Geschichten, deren einige nicht
ohne Pikanterie sind, erzählt zur Zeit der all-
jährlichen Schuldenzahlung einer dem andern.
Nachstehend eine der gelungensten, die in
Europa weniger bekannt ist, als in Japan,
eine Geschichte voll absonderlichen HumörS:
Am kritischen Tage kam ein Samourai sehr
würdig, aber sichtlich sorgenvoll zu seinen!
Reishändler und sprach: „Zu meiner Schande
und Verzweiflung, Herr Reishändler, kann ich
Ihnen heute den Betrag, der meine Schuld
ausmacht, nicht bezahlen. Ich weiß also, was
inir zu tun übrig bleibt, und komme, um mir
vor Ihren Augen den Bauch aufzuschlitzen."
„bim Himmels willen, Herr Samourai,
begehen Sie keine Verzweiflungstat! Ich
werde, wenn es sein muß, geduldig bis zum
näcbsten Frühjahr warten."
„blmsonst! Bin ich überdies sicher, Ihnen im
Frühjahr bezahlen zu können? Ich bringe mich
ganz einfach um und die Sache ist erledigt!"
„Nein, ich bitte Sie, es lväre sehr wenig
ritterlich von mir, aus einer so geringfügigen
bbrsache einen Kavalier wie Sie, in den Tod
zu treiben. Schauen Sie her und sehen Sie,
(Fortsetzung S. 843)
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