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Ser Körper verlor fcaö Gleichgewicht und ver-
schwand. Ich begriff kaum, daß eS schon
geschehen sei, so leicht und schnell war alles
gegangen. Ich eilte in die Mitte der Brücke,
damit man mich von unten nicht sehen könne,
und ging über die Schienen heim. Ich kam
nicht in die Versuchung, zu laufen. Ich war
viel zu erschöpft. Erst, als ich mich in meinem
Zimmer niedersetzte, erschrak ich, und zwar auf
eine so tiefe und entsetzliche Weise, daß ich mich
während zweier Stunden nicht von meinem
Stuhl zu erheben vermochte. Durch das offene
Fenster drang Abendkühle von den Wiesen her-
ein. Das letzte Sonnenlicht lag noch wie ein
Heller Schleier auf den Baumkronen. Die
Mücken spielten. In meinem Ohr war ein
Gefühl, als habe ich soeben einen furchtbaren
Schrei gehört. Sicherlich hatte das Mädel ent-
setzlich geschrien, als ich sie über daS Geländer

stieß-" '

Teerbom schwieg. Schon seit längerer Zeit

waren ihm Tränen über das Gesicht gelaufen.
Er war völlig zusammengebrochen. Da es
bereits dunkel im Zimmer war, und seine
Stimme ihren müden, ein wenig empörlichen
Klang unverändert beibehalten hatte, bemerkte
Greta nichts. Sie sprang auf und versuchte
angestrengt, ihn in heiterer Art an das Kino
zu erinnern. „Jetzt hast du mir einen ganzen
Film erzählt und sicher nur einzig und allein
in der Hoffnung, daß du jetzt nicht mehr mit
mir ins Kino zu gehen brauchst", sagte sie.
Teerbom trat auf sie zu, blieb dicht vor ihr
stehen und faßte ihre Arme. Er wollte etwas
sagen, aber ein nervöses Würgen im Hals hin-
derte ihn daran. Greta gab ihm einen Kuß,
da bemerkte sie die Tränen, „Lllli!" ries sie,
und rührte sich nicht. Er blickte ihr inS Gesicht.
Er fühlte, wie sie zu zittern begann. Plötzlich
brach ihr der Schweiß auf der Stirn aus.
Teerbom ließ sie loS. Mit einer ganz hohen,
beinahe kreischenden Stimme brachte er hervor:

„Berta Maria Fehlenburg aus Solingen, Her-
bergerstraße 7. Ermordet am 12. Juli 1929."
Greta drehte sich um, nahm vom Waschtisch
ihre Handschuhe und die Tasche und ging auö
der Tür, die sie hinter sich offen ließ. Teerbom
schloß die Tür.

In einem gleichsam schwebenden Zustand
ging er durchs Zimmer. Er ließ sich am Fenster
nieder. Soeben flammten die Lampen auf. Sie
hingen in der Mitte von Drahtseilen, die quer-
über die Straße gespannt waren. Der Wind
schwang sie hin und her, ihr Licht streifte die
Stockwerke ab. Dünner Regen fegte über den
Asphalt. Auf der Straße hielt ein Auto mit
einem kastenartigen, fensterlosen Aufbau. Es
blendete seine Scheinwerfer ab. Drei Polizisten
kletterten heraus und schlossen an der Rückseite
des Wagens eine Tür auf. Dann gingen sie
ins Haus. Teerbom wurde übel. Er erhob sich,
trat in die Mitte des Zimmers und blieb dort
stehen, den Blick zu Boden gerichtet.

Aus Joseph Alois von Paurs
Lebenserinnerungen

(Aus dem im Einhorn-Verlag erschienenen Buch
„Altmünchner Erinnerungen")

Auf der Universität Salzburg, wo ich von 1766 bis 1792 Staats-
wiffenfchaft studierte, lernte ich den damals weit und breit bekannten
Freiherrn von Llnertl kennen. Man wußte von ihm, daß er dem 1776
von Weishaupt in Ingolstadt gegründeten Illuminatenorden angehört
hatte, daß er nach den Edikten 1764 und 1785, in denen Kurfürst Karl
Theodor die Gesellschaft aufgelöst und hiermit jede freie ReligionS-
meinung zu unterdrücken gemeint — im geheimen fest zu dem einmal
als richtig erkannten Bund hielt. Zwar hatte das sogenannte geheime
Gericht alsobald eingesetzt, seine Opfer in allen Schichten der Bevölkerung
zu suchen und zu finden. Die Verdächtigen oder Verdächtigten ver-
schwanden ohne gerichtlichen Prozeß, wie die Schatten, um nie mehr
aufzutauchen. Aber gerade diese heimtückische Strenge reizte zum Wider-
spruch. Don uns Studenten, soweit wir nicht ganz hirnverbrannt
lvaren, standen alle mehr oder minder zu dem unterdrückten Bund.

Schon sollten da ud dort die ungeheuerlichsten Geschehnisse durch das
heimliche Gericht zur Ausführung gekommen fein, schon hatte man auch
in Salzburg das sogenannte Halbchaischen zur Nachtzeit begegnet,
dessen Kutscher und Begleitmannschaft die geschlossenen schwarzen
Kapuzen über daS Gesicht gezogen hatten, aus deren ausgeschnittenen
Augenlöchern der Blick unheimlich und gräßlich wie ein Dolchmesser
herausstach; schon sah man sich allenthalben von Spionen bedroht —
aber wir Studenten waren immer noch waglich genug, mit dem kühnen
Freiherrn von Llnertl, der den Kampf mit den geistigen Llnterdrückern
so mutig aufnahm, in nähere Verbindung zu treten. Noch sehe ich ihn
vor mir, in den besten Jahren, groß, schlank, nicht eigentlich schön,
aber geistvoll und ansprechend. Wir sprachen über Politik, Religion
und all die wünschenswerten Verbesserungen, die wir uns begehrten.

Lind wir waren hingerissen von der stolzen Freiheit, die auS all seinen
Worten und Blicken sprach. Er zog uns an wie der Magnet das
Eisen, schau am zweiten Tag ließen wir unS gleiche Degenkoppeln
machen, von schwarzem Leder, mit silbernem Verschluß, auf der Innen-
seite mit einer Silberplatte, darauf der Name des Trägers in kräftigen
Buchstaben eingraviert war.

Das lvaren schöne Tage. Wir schwärmten nach Herzenslust von den
goldenen Zeiten, die kommen sollten. So saßen wir auch einstmals bei
unserm Kneipwirt in der geheimen Hinterstube, auf daS nichts unfern
Aufenthalt verraten sollte. Da klopft eS plötzlich an die verschlossene
HauStüre mit einem Hammer. Ein-, zwei-, dreimal. Wir sprangen
auf, der Wirt kam mit kreideweißem Gesicht herein: „DaS heimliche
Gericht ist draußen und begehrt Einlaß! Meine Herren! Ich darf und
kann nichts daloider auSrichten. Verschließ' ich ihnen heute daS Tor,
setzen sie mir morgen den roten Hahn aufs Dach!" V/ ü r g e r Tod

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Friedrich Inhauser: Würger Tod
Joseph Alois v. Paur: Aus Joseph Alois von Paurs Lebenserinnerungen
 
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