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41. JAHRGANG

1 9 3 6 / N R. 2

'NACHT IN C1IIIESSEN

VON HANS R EIMANN

„Glänzend, wie der Wagen läuft - jetzt kann ich Ihnen endlich die
Geschichte exzählen — meine Nacht in Gießen — haha — (MoLor-
räder sind die reine Landplage — sollten glatt verboten werden) —
also, passen Sie auf — das war im November i6 — wipen Sie, die
dolle Zeit nach dem Umsturz — die Kinder keine Milch meine
Schwiegereltern Gottseidank zu Hause in Dänemark — (ein N.F.P.

— komisch — sieht man kaum noch!) — na scheen also es war
phantastisch — einfach nichts mehr zu fressen — nicht mal hintenrum

— da Hab ich einfach meine Frau und meinen Jungen auf die Bahn
geladen — nachts gegen zwölfe waren wir in Kassel — den ganzen
Tag unterwegs — (was kommt denn da? — ein Zeisler!) — kein
Gepäckträger — keine Unterkunft und nischt — also weiter — Ham-
burg — dann mit der Fähre von Warnemünde — ein paar Ausländer
hatten dem Lokomotivführer zwei Dollar gegeben, daß er in Rostock
durchfährt, ohne zu halten — kurz und gut, meine Familie war in
Sicherheit — ich nun in denselben Etappen retour nach Frankfurt
(ein Apel-Katzenstein ist hunderttausend Kilometer mitgefahren — jetzt
ist er hin!) — ich hatte noch eine Kleinigkeit in Frankfurt zu erledigen

— ja — aber bummS — nachts um elf hält der Zug in Gießen —
Schluß — fährt nicht weiter — alles raus — (derselbe Wagen wie
meiner — Beyer hat ihn auch — wissen Sie, der in Tutzing stand —
in der Garage — aber saumäßig gepflegt — möchte wissen, wovon der
lebt — angeblich macht er Hosenknöpfe — na scheen!) — das sah
lieblich auS, sag ich Ihnen — der Bahnhofsplatz das reinste Heerlager

— lauter Feldküchen und Pferde — ich hundemüde — können Sie sich
ja denken, wie? — schon am Bahnhof wurde mir gesagt: kein Gedanke
an Unterkommen — nirgends Platz — auch nicht im Wartesaal — der
war übrigens geschlossen — da war irgend so ein Svldatenrat drin —
ging ja alles drunter und drüber — (ein Tresto — auch schon wer!) —
dabei goß es in Strömen — und ich hundemüde — (so einen flachen
Kühler hat nur ein Lucia!) — da seh ich zufällig an einer Plakatsäule
einen Theaterzettel — und entdecke einen Namen — die Schwester von
meinem Schwager Brügmann — wann ist die Chose aus? — nach
elf — na, denk ich, das klappt ja famos — Romeo und Julia — da
hat sie bis zu Ende zu tun — die Julia stirbt ja erst ganz zuletzt, nich?

— frage mich also durch bis zum Theater — komme auch gerade noch
zurecht — erwische daS Mädchen — was soll ich Ihnen sagen? — die
freut sich kaputt, mich mal wieder zu sehn — will mir auch gleich
Nachtguartier verschaffen — dabei gießtS in Strömen — total durch-
näßt — und hundemüde — (was stinkt denn da so?) — na scheen —
sämtliche Hotels mit ihr abgeklappert — alles belegt mit Mannschaften
und Offizieren — sämtliche Pensionen, die sie kannte — alles Essig —
sämtliche Bürgerquartiere — hier geklingelt, da geklingelt — nischt —
wie verhext — (bitte, fahren Sie ruhig vorbei, Herr Näsch — was
ist denn das? — dem Kerl sein rechtes Hinterrad schlägt — könnt ihn
sofort wieder haben, wenn ich wollte — was haben wir denn drauf? —

— ist genuck!) — na scheen — in strömendem Regen rum-
gestiefelt bis um zwei — (ein Reibach, die reinste Lokomotive!) — und
i)cr Regen praßelte immer doller — stellen Sie sich meine Verzweiflung
vor — drei Tage so gut wie überhaupt kein Auge zugetan — aber
Julia wußte Rat — der letzte Ausweg — wissen Sie, was sie sagte?

"Ich gkb Ihnen mein Zimmer und schlafe die Nacht bei der Tochter
von meiner Wirtin!" — bong — mir war alles toute meme Schulze

— ich hätt and) zwischen den Doppelfenstern gepennt — na scheen —
unterwegs schreit sie plötzlick): Sgehtnid)! Sgehtnich!" — „Warumnich?"
frag ick) "^gchtuich! Sgehtnid)! Ich Hab ja heut abend mein
Zimmer abgetreten an die Tochter von meiner Wirtin, die hat nämlich"

— (kucken Sie mal — da ist ein Pinkerton — ganz große Klasse —
v!>u)tizi.at Scharnhorft fährt genau denselben!) — hat das Zimmer

verpumpt an die Tochter von der Wirtin — und da schlief sie in dem
Zimmer von dem Mädchen — glänzend — na scheen — mir war jetzt
alles egal, das kann ich wohl sagen — aber Julia wußte einen Aus-
weg — sie wird die Sack)e sck)on arrangieren, sagt jie — (Gott, hat
der's eilig! — fahr dock) rechts, Dussel!) — ja, wird die Sack)e schon
arrangieren — was sollt ich machen? — eben mit — kleine Straße

— eng und miekrig — eine Gaslaterne mit einer zerbrochenen Scheibe

— ich seh daS alles nod) deutlid) und klar vor mir — (so ein dämliches
Biest!) — und die Laterne ging egal an und aus — im Winde — (was
so eine Kuh auf der Straße zu sud)en hat, möcht id) wissen!) — Julia
schloß ein Tor auf — (schn Sie, so kommt man immer wieder vom
Tempo runter!) — Hinterhaus — ein Hof — es roch penetrant nach
Gurken und nad) ätherisd)en Ölen — Haufen Kisten standen rum — ich
unten gewartet — Julia kommt wieder runter — strahlt überS ganze
Gesid)t — ja, ich kann daS Zimmer haben — beizeiten will sie mich
wecken, daß ick) den ersten Zug erwische — nach Frankfurt — aber
scheen leise — daß niemand waS merkt — eine Glastür — noch eine
Glastür — eine Treppe — (das war ein Apricot-Cabriolet — der neue
Typ — klappert aber ooch!) — noch eine Treppe — ein langer Gang

— wieder eine Treppe — Julia sperrt vorsichtig auf — an der Tür
so eine Klingel mit so einer großen Knubbel — die so rasselt, wißen Sie,
ick) kucke mick) um — ein riesiges Zimmer — zwei Fenster — ein Eck-
zimmer — ganz hinten in der Ecke ein riesiges Bett mit wunderbaren
Federkissen — ick) sofort — wie ich ging und stand — rinn — (tadel-
lose Chaussee — glänzend!) — ick) habe kaum fünf Minuten gesck)lafen:
kloppts! — ich reib mir die Augen — steht jemand direkt vor mir —
ick) sehe gegen die Fenster eine Silhouette mit Strohhut — mal wurde
es heller, mal wurde es dunkler — die Laterne flackert — ein junger
Mann — direkt vor mir — reißt die Haken zusammen und sagt an-
dauernd: Krummholz — ich wußte erst gar nid)t, waS er wollte —
dann merkte ich allmählich, daß das eine Vorstellung sein soll — dann
bittet er mich, ich möchte so freundlick) sein, ihn runterlassen — die
Mutter sollte nisck)t merken — die Mutter von der Tock)ter von der
Wirtin — also die Wirtin, nick)wahr? — und der Schlüssel, den er in
der Hand hatte, das war der Haussck)lüssel — und den sollt ich dann
aufs Fensterbrett legen — wenigstens sagte er immer wieder: „Schlüssel

—Fensterbrett" — ich war ja sooo verschlafen! — (in Oberau müssen
wir scharf reck)ts!) — na scheen — waS wollt ich machen? — Herr
Krummholz mit seiner Butterblume wollte partout runter — und ich

sollte dann den Sck)lüssel aufs Fensterbr-(ein Krystallet — nein,

das war kein Krystallet — das war eine Krystalline — warum streicht
denn der seinen Kasten so knallgelb an) — na scheen — ick) also mit
Herrn Krummholz runter — im Nachthemd — und in Pantoffeln —
nee, ich hatte ja gar keine mit — also in bloßen Füßen und im Nacht-
hemd — runter in den Hof — da rock)'s wieder so nach Gurken und
nach ätherischen Ölen — ich schließe die Tür auf — der Mann mit
der Butterblume sagt: „Dielen Dank!" — dann wieder: „Schlüssel —
Fensterbrett!" — und dann war er verschwunden — wie weggeblasen
— der Herr Krummholz — (ein Pickard — Pickard ist prima — Beyer
will sich jetzt auch einen kaufen — Hosenknöppe scheinen sich zu ren-
tieren!) — ich trete den Rückzug an — im Hemde — kaum bin ich
hinter der ersten Glastür — schwupp, geht die Kerze aus — nun stand
id) da im Dunkeln — ein Glück, daß der Boden so eisig kalt war, ich
wär sonst glatt eingesck)lafen — unten war ich munter — aber oben
war ick) müde zum lllmfallen — der Kopp — (jetzt rechts ab — gleich
haben wir s geschafft!) — na scheen — also ich die Treppe wieder
hinauf — stockduster die Treppe — (schon wieder ein Apel!) — ick) im
Nachthemd langsam die Treppe hinauf — plötzlich Hab ick) eine Klingel
in der Hand — aber WaS nützt mir daS? — ich wußte ja nick)t, wo ick)
bin — ich wußte ja nick)t, wie die Leute heißen, wo Julia wohnt — ich

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Hans Reimann: Nacht in Giessen
 
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