Die Bettelsuppe
Tage mußte die letzte Hoffnung begraben
werden: Das Bild der Sonne begann einzu-
schrumpfen. D Grauen ohne Maß: Sie läßt
uns im Stich, geht auf und davon!
Auf Erden herrschte völlige Stille, eö regte
sich kein Hauch. UrweltlicheS Frösteln zitterte
durch die Welt. Im Angesichte eines unab-
wendbaren Massentodes ergriff die Menschheit
wilde LebenSgier. Ein jeder trachtete danach,
sich zu vollenden, wie ihn die Natur gebildet
hatte. Die Kultur versank, die nackte Natur
triumphierte. Die Erde ward ein Sodom, sie
spie ihren Geifer aus. Schamlos enthüllten sich
die dunklen Winkel der Seelen, sich ihrer
Wollust brüstend. Lasset uns schweigen von den
schauerlichen Szenen, aus der Tierheit mensch-
lichen Wesens geboren. Eros wütete in Blut
und Brand, letzten Genuß findend in geiler
Vernichtung! —
v
Hugo Troendle
Es war, als ob die alte Erde vor ihrem
Ende noch einmal ihre Vergangenheit durch-
träume. Sie war urplötzlich bevölkert von
tollen Gestalten, die geisterhaft umgingen und in
Nichts zerflatterten, wenn man sie greifen
wollte. Man sah Napoleon Heerschau halten
und gleich darauf rauchten allenthalben die
Scheiterhaufen der Inquisition. Sie vergingen
und an ihrer Stelle tauchten in rascher Folge
die Schatten deS Rittertums und der Völker-
wanderung auf. Kaiser Friedrich, der herrliche
Staufer, kam und ging, ihm folgte ein wilder
Zug von Hunnen, von Attila geführt. Sodann
konnte man in riesigen Wäldern unsere Alt-
vordern sehen, wie sie den Wisent niederrangen.
Endlich erschien ein menschenähnliches Wesen
mit tierischen Zügen und katzenhaft schnellen
Bewegungen inmitten einer fremdartigen Welt.
Ungeheure Fabelwesen, die Tierkolosse der Vor-
zeit zeigten sich öen entsetzten Blicken der Men-
schen, die zwischen Traum und Wirklichkeit
keine Brücke mehr fanden: Die Erde durcheilte
den Raum mit einer Geschwindigkeit, die
tausendfach größer war als die des Lichtes.
Sie überholte die Lichtstrahlen, die vor Jahr-
tausenden abgesandt, im unendlichen Raume ein
unwirkliches Dasein führten.
Den erhabensten Geistern aber enthüllten stch
in diesen Tagen die letzten Dinge. Dämonen
hockten allenthalben, in chaotischem Durchein-
ander; über allem ein Wesen, riesig, von un-
gewisser Form, aber durchaus menschenähnlich.
Eö vergnügte sich damit, die Menschen an
tausend Fäden zu zerren und nach Belieben zu
zertreten, ohne daß diese Insekten ein Organ,
es wahrzunehmen, besessen hätten. Sah man
genauer zu, so entdeckte man, wie sich endlose
Ketten von Ursache und Wirkung in bestimm-
ten Punkten schnitten, die der Mensch mit dem
Namen „Zufall" belegte. Nach strengen Ge-
setzen rollten diese Vorgänge ab und es zeigte
sich, daß nicht der Zufall, sondern die Mensch-
heit blind gewesen war. Sie war es noch
immer, von einigen Auöerwählten abgesehen.
Dennoch leuchtete in der kosmischen Däm-
merung ein matter Schimmer eines fernen
Lichtes, das unmerklich an Kraft gewann und
von unbeschreiblicher Reinheit war. Adepten
letzter Weisheit fühlten gläubig seine Wirkung;
es deckte mit sanfter Stärke alle Greuel der
Vernichtung, erwies sich mächtiger als alle
Schatten. Es erschloß ihnen den Sinn des
Lebens, Beethovens Sonaten ertönten ihnen,
göttliche Freude füllte ihre Herzen. Doll ehr-
fürchtiger Scheu lobten sie die Gottheit, die sich
endlich den Schleier zu lüften anschickte, der
diese Welt des Scheins verhüllt. —
Die Zeit verlor ihren Sinn, niemand zählte
mehr die Tage, als das Letzte eintrat, das auch
die stärksten Seelen an den Rand des Ab-
grunds führte: Die Schwerkraft der Erde ließ
zusehends nach, unaufhaltsam, unerbittlich!
In stummer Verzweiflung klammerten stch die
Menschen an Bäume und Steine. Vergeblich!
Mutter Erde starb, sie vermochte ihre Kinder
nicht mehr zu halten. Kleine Kinder rissen
Bäume aus, trugen zentnerschwere Steine auf
den Armen.
Die Oberfläche der Erde begann ein gespen-
stisches Leben zu entfalten. Uralte Felsen
neigten sich, sanken weich und lautlos um. O
erbarmungslose Gottheit! Diese stumme Ver-
nichtung, diese weiche Fäulnis von Eisen und
Erz war schrecklicher als alles andere! Die
Fluren krümmten und kräuselten sich kränklich
wie die Lippen Todgeweihter. Am westlichen
Himmel stand eine kleine, blutrote Sichel: Die
Sonne. Ewige Dämmerung sank herab. Der
letzte Tag des Lebens sah noch drei Lebende
auf ödem Sand, der zu ihren Füßen kleine
Wellen warf wie ein Teich vor dem Gewitter-
sturm. Aus nächtlichen Fernen nahten riesige
Schatten auf dunklen Rosten. Es kamen die
apokalyptischen Reiter, voran der Tod mit
schwarzen Schwingen. Die Angst meiner
Seele aber befreite sich in einem letzten, gewal-
tigen Schrei — — — und dann war alles
wie vorher.
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