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J U

4 1. JAHRGANG

N D

1 9 3 6 / N R. 6

NEUER BEGINN

Q^on Glcuts cTL. GRohuert

Wie groß ist dos Leben, wie klein der Lag
im Singen und Schwingen der Zeit!

Wer fürchtete bei ihres Pendels Schlag
noch Traurigkeit?

Aus täglichem Kampf um Liebe und Licht
erhebt sich die Weltmelodie,
und gäbe es Sturm und Wetter nicht,
wie arm wär sie!

N

Ein Jubelton liegt über jedem Beginn,
ob Sonne, ob Regen gilt gleich.

Wir ziehen mit fröhlichem Mut dahin:

Welt, bist du reich!

IDAVS MÖBELWUNDER

Qson Gßruno Gorra

(Aus dem Italienischen von Carl Georg Asperger)

Der Salon eines Landhauses. Große Möbel aus Eiche mit viel
Handschnitzerei. Ein runder Tisch, zwei Eektischchen, zwei SosaS, fünf
Armstühle, ein Schreibtisch und ein Schrank mit einem Geheimsach. Es
find die Meisterstücke des Hausherrn, des DorsmöbeltischlerS Edmund
Pastor.

Der Schrank mit seinen vierundzwanzig kleinen Laden und den vier-
undzwanzig Messinggrissen ist ein wahres Wunderwerk. Nimmt man
die sechste und achtzehnte Lade heraus und zieht kräftig an den in der
Tiefe der beiden Abteilungen angebrachten Griffen, so seht man zwei
Metallhebel in Bewegung, wodurch eine zwischen den zwei Ladenreihen
befindliche Klappe aufspringt und ein Geheimfach enthüllt. An jeder
der vier Wände des Salons hangt ein länglichrunder Spiegel im Gold-
rahmen.

Wenn sich die Spiegel auf einen Augenblick des Gesichtes Edmunds
bemächtigen können, rufen sie ihm zu: „Sieh dich an, sieh dich an!" Die
breite, hohe Stirne, die schwarzen Augen, die kräftige Nase, das vier-
eckige Kinn lassen auf männliche Tatkraft schließen. Nicht so der Mund,
der kindlich ist, naiv. Wenn man seinen GestchtSauSdruck wieder beob-
achtet, nachdem man seinen Mund betrachtet hat, dann entdeckt man
auch in den anderen Einzelheiten eine gewisse Schwäche. Er ist ein
Mann, der nie von selbst auf etwas kommen wird. Man müßte zu
ihm sprechen, ihm zuflüstern. Die Möbel geben sich alle erdenkliche
Mühe, lassen ein Knacken hören, ein Wiunuern.

Sie sind Edmund zugetan, sie lieben ihn. Nach seinem mühevollen
Tagewerk bringt er in seinem Haar, seinen Kleidern, an seinen Händen
den belebenden Geruch frischen Holzes mit heim, blnd jeden Sonntag-
abend, wenn er von seinen Jagdausflügen nach Hause kommt, füllt
Wald- und Feldblumenduft, MooS- und Harzgeruch die Zimmer. Die
Möbel träumen von ihrem früheren Dasein: Finken zwitschern auf dem
Sims des Schrankes, warmer Aprilregen rieselt auf die runde Tisch-
platte nieder. Aber wenn Jjnliana in das Zimmer tritt, ist der Zauber
gebrochen. Ihren Kleidern entströmen scharfe, unnatürliche Düfte. Es
ist ein jäheS Erwachen. Die Möbel hassen Juliana. Es ist eine Dual
für sie, ihren Haß nicht auSdrücken, die Frau nicht anklagen zu können.

Jjnliana bewundert ihr Gesicht in einem der länglichrunden Spiegel.
Der Stuhl, auf den Edmund sich gesetzt hat, möchte ihm zurufen: „Sieh
sie dir doch an!" Blondes Haar, schmale Lippen, helle Augen, etwas
Duftiges und blngreifbareS. Eine durchsichtige Märzwolke, erfahren in
der Kunst, sich drei oder vier Winden zu gleicher Zeit anzuvertrauen und
sie am Gängelband auf den blauen Wegen deS Himmels umherzu-
führen .. . Edmund wird ihre blntreue nicht entdecken. Er ist aus
weichem Lindenholz geschnitzt. Den ganzen Tag verbringt er in seiner
Werkstatt, fern von dem Wohnhaus. Zweimal in der Woche kommt
aus der. Stadt der hübsche Musiklehrer mit der langen schwarzen
Künstlermähne heraus, um Klara Stunden zu geben, Edmunds Töch-
terchen aus erster Ehe. ^jnliana ist Edmunds zweite Gattin, sie ist viel
jünger als er. Seit einem Jahr fährt sie sehr oft in die Stadt. Zum
Zahnarzt? Zur Schneiderin? .. . Ein leises Krachen des runden Tisches.
Ein Knarren des Schrankes. Dann wieder Schweigen. Sie werden nie
sprechen können. Auf einem Ständer steht auf dem Schrank grün, gelb
und blau der Papagei Toto, der seit drei Jahren tot ist. Er sieht wie
ein Symbol aus, das Symbol des blnvermögenS, zu sprechen. Wenn
der Salon leer ist, richtet sich der Blick aller Gegenstände auf den
Schrank, der in dem bewegungslosen Drama die erste Rolle spielt. In
dem Geheimfach, im Herzen deS von Edmund geschaffenen Möbelstückes
sind die von dem Lehrer an Juliana gerichteten Briefe versteckt: flam-
mende Worte auf himmelblauem Papier.

Schweigen. Ergebung. Tragik der blnbeweglichkeit. Die vierund-
zwanzig Messinggriffe an der Brust des Schrankes sind vierundzwanzig
Kerkerriegel. Die zweiunddreißig Liebesbriefe sind zweiunddreißig Blei-
platten. Wird er sich von dein Alp, der sein Herz zu erdrücken droht,
nie befreien können? Dinge können nicht sprechen. Juliana tritt in den
Salon, versperrt die Tür, nimmt die zwei Laden heraus, zieht an den
zwei Hebeln und macht die Last des Geheimnisses noch um einen drei-
unddreißigsten Brief schwerer. Sie lächelt, stolz über ihre Kühnheit.
Wie oft lehnt ihr Mann, wenn er mit ihr spricht, den Rücken an sein
Lieblingsmöbelstück! Juliana sieht seine große Hand zerstreut an der
Stelle verweilen, wo sich die, selbst mit einem Vergrößerungsglas?aum

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Register
Claus Th. Rohnert: Neuer Beginn
Bruno Corra: Das Möbelwunder
 
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