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J U

4 1. JAHRGANG

END

1 9 3 6 / N R. 2 4

Bilanz eines Tages

Wenn du das Licht ausgedreht,
und die Nacht, die unerbittliche, vor dir steht
lind Rechenschaft fordert: waS hast dn vollbracht,
waS hast du getan

init der Zeit, der unwied-erbringlich verlorenen Zeit?

Dann versinkt ohne Fracht,

leer und ohne Gewicht der Kahn

deS Tages im unergründlichen Meer der Ewigkeit.

Wohl hast du allerlei Dinge getrieben,
diktiert, telephoniert, einige Briefe unterschrieben,
hast im Büro gesessen,

eine Besprechung gehabt, mit einem wichtigen Mann zu Mittag gegessen,
vielleicht auch mit einer schönen Frau ...

Aber nur am Tan kannst du dich damit betrügen.

Die Nacht
ist genau:

von 'l/egesack

sie läßt sich nicht belügen.

Jetzt, im Dunkel, ohne das Blendwerk des Lichts:
was hast du vollbracht?

Nichts.

Nichts vollendet und nichts begonnen.

Der Tag ist wie Wasser zwischen deinen leeren Händen zerronnen.
Nichts ist geblieben.

bind vielleicht wird nur eine kleine Tat deinem Konto gutgeschrieben:
daß du einem Arbeitslosen für zwanzig Pfennig Streichhölzer abge-
nommen.

Aber das tatest du ja nur, um mit gutem Gewissen an ihm vorbei-
zukommen,

an diesem dunklen, quälenden Schatten, der dich bedroht,
dich vernichtet,

der dich anklagt, wie die Nacht, und wie der Tod
dich richtet.

UM SC IH LAIF GEGEBEN

VON WILHELM WELDIN

Ronny Sothwell war der leidenschaftlichste und überzeugteste Schläfer,
der je von sechs Tagen der Woche fünfmal zu spät ins Büro kam.

Das Merkwürdige dabei war, daß Ronny in der Blüte seiner Jahre
stand und sich einer robusten Gesundheit erfreute. Statistiker hätten
unschwer errechnen können, daß er von den fünfundzwanzig Jahren
seines Lebens wahrscheinlich bloß zwei Jahre gearbeitet, drei Jahre
über unüberwindliche Müdigkeit geklagt und den Rest verschlafen hatte.

Daß er dennoch überhaupt lebte, war ein Phänomen.

Es war nur dadurch möglich, daß er manche geschäftlichen Angelegen-
heiten «so lange verschlief, bis sich herausstellte, daß sie faul waren,
was ihn in den' Geruch einer treffsicheren kaufmännischen Begabung
brachte. Ein glücklicher Börsencoup, der dadurch zustande kam, daß
er den Anruf seiner Bank verschlief und ein Papier, dessen sofortigen
Verkauf man ihm nahelegen wollte, wider alle Erwartung in schwin-
delnde Höhen stieg, während er gerade träumte, daß er im Nachthemd
auf dem Perron der Charing Croß Station stand und von drei Poli-
zisten, einer Brillenschlange und seiner Tante Ursula mit einem Regen-
schirm verfolgt wurde, ermöglichte es ihm, fürderhin auch die kurze
tägliche Zeitspanne, die er sonst im Büro durchwacht hatte, der gesunden
und köstlichen Betätigung des Schlafes zu widmen.

Seither schlief er statt in seinem Bürosessel auf Bordstühlen von
Bergnügungsdampfern, in luxuriösen Riviera-Betten und im Sand
fashionabler internationaler Seebäder. Er hatte das höchste Ziel seines
Lebens erreicht, nämlich ungestört schlafen zu können, und wäre für alle
Zeiten restlos glücklich gewesen, wenn nicht ein unerbittliches Schicksal
in ihm die Flamme einer leidenschaftlichen Liebe zu dem Mädchen im
gelben Badetrikot entfacht hätte.

Eö kam wie alle Schickfalsschläge plötzlich und riß ihn buchstäblich
auS allen Träumen.

Er lag am Strand von Clacton in einem bequemen, blaugestreiften
Liegestuhl und schlief. Eine schlanke Elfe in einem Badetrikot tänzelte

durch seine Träume immer näher an ihn heran, bis sie auf seiner rechten
großen Zehe zu stehen kam, wobei sich herausstellte, daß sie ein Gewicht
von mindestens 50 Kilo hatte. Mit einem leisen Wehschrei riß Ronny
die Augen auf und wußte einen Augenblick nicht, ob er wach war oder
träumte. Auf seiner Zehe stand tatsächlich ein elfenhaft schlankes Mäd-
chen in einem gelben Badetrikot, nur wandte es ihm zum Unterschied
von der Traumerscheinung den Rücken zu und betrachtete versonnen
die heranrollenden Wogen.

„Hallo!" sagte Ronny. „Stehen Sie gut auf meiner Zehe?"

„Oh, verzeihen Sie!" rief das Mädchen, sich umwendend, und Ronny
sah zu seinem größten Erstaunen, daß eS tatsächlich der Elfe seiner
Träume nicht unähnlich war.

„Bitte steigen Sie nur ruhig wieder auf meine Zehe", sagte er liebens-
würdig. „Ich würde alles tun, um Ihnen eine kleine Freude zu
bereiten."

Das Mädchen musterte ihn interessiert. Es war etwa zwanzig Jahre
alt, außerordentlich hübsch und hatte einen herausfordernden kleinen
roten Mund, der beim Lächeln zwei Reihen blendend weißer Zähne
enthüllte.

„Das ist schrecklich nett von Ihnen", sagte sie. „Aber offen gestanden,
wäre mir ein Liegestuhl lieber. Ich bin direkt aus der Jagd nach einem."

Ronny war mit einem Male wacher denn wach. Ohne schonenden
Übergang erfuhr er an sich, was die Liebe — und noch dazu die Liebe
auf den ersten Blick — aus einem aufrechten Mann machen kann.
Mit einer blitzartigen Schnelligkeit, die er sich nie zugetraut hätte, ver-
wandelte er sich der Reihe nach in ein Wiesel, einen Lastträger und
einen routinierten Aussteller von Liegestühlen.

Von diesem Augenblick an begann für Ronny die schwerste Zeit
seines Lebens. Er schleppte rastlos Liegestuhle, Bademäntel, Sonnen-
schirme, Photoapparate und Handtäschchen hinter dem Mädchen her;
er besorgte in kurzen Intervallen von fünf zu fünf Minuten Zigaretten,

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Wilhelm Weldin: Im Schlaf gegeben
Siegfried v. Vegesack: Bilanz eines Tages
 
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