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J u

41. JAHRGANG

E N D

1 9 3 6 / NR. 40

DAS

KLEINE WINDRAD

Q lovelL

von

Als Herr Soundso füllt man seinen Platz ans, hat feine großen Sorgen
und kleinen Freuden und die Tage reihen sich aneinander, schön ordentlich,
wie die Glieder einer Kette.

Dann, mit einem Mal, ist etwas anders geworden. Man fühlt sich
innerlich wach werden. Vielleicht ist, was jahrelang in uns gärte und
reifte, nun Frucht geworden, die wir ernten. Oder der gerade Weg, den
wir gingen, zweigt plötzlich ab in neues unbekanntes Land. Wie immer,
es ist ein Wendepunkt. —

Gerhard Sellmann sitzt im Zug, der ihn nach Süddeutschland trägt.
Gin ganz winziges Städtchen ist dort, man findet's kaum auf einer
üblichen Landkarte.

Ja, das ist jetzt ein volles Dutzend Jahre, feit Gerhard Sellmann,
nicht zum Besten gestimmt, aus der beschaulichen Heimat entfloh in die
weite bunte großzügige Welt, die die Leute dort nur vom Hörensagen
kannten. Er hat sich nicht zwingen lassen damals zu Enge und Be-
schränktheit, es gab keinen Beruf für ihn in dem Landstädtchen und auch
kein Vergnügen, keine Frauen nach seinem Sinn, nichts, das zum Bleiben
gelockt härte.

Elternhaus? Seit Mutters Tod herrschte dort die Schwester in Ge-
schäftigkeit und werbender Sorge um den Vater, der als Beamter feinen
Abschied genommen und sich fortan mit Haus und Garten, abendlichem
Dämmerschoppen und Pflege seiner Kanarienvögel beschied. Nun ja,
ein verwitweter alternder Mann. Aber die Schwester, gleichen Geblüts
und kaum zwei Jahre älter als Gerhard, wie konnte sie so gar nichts von
Fernweh, Taten- und Abenteuerlust verspüren, die den Bruder im klein-
bürgerlichen Rahmen zuweilen wie ein Fieber überfallen hatten!

Bitteres Gefühl, von seinen Nächsten nicht einmal verstanden zu sein.
Nein, da war keine Brücke von ihm zu den andern.

Gerhard ging in ein Londoner Geschäftshaus und lernte Kaufmann.
Zwei Jahre Übersee, Krise, Zusammenbruch der alten Firma, ver-
zweifelter Kampf, um oben zu bleiben, schließlich Hinüberwechseln zum
Konkurrenzunternehmen, langsamer Aufstieg — all das liegt hinter ihm.
Jetzt hat er einen schönen Posten, eine Bezahlung, mit der er gut eine
Familie gründen könnte, wozu er bisher jedoch keine Lust verspürte. Sein
Bankkonto wächst. Der Schrankkoffer, den er rasch noch in London
erstand, beherbergt teuere Seidenwäsche, zwei neue erstklassige Anzüge.

Wieso denkt er an seinen Londoner Schneider — während er zu
Vaters Grab in die Heimat fährt? Eigentlich bedauert er kaum, das
Telegramm mit der Todesnachricht verspätet erhalten zu haben, da er
sich bei dessen Eintreffen auf Geschäftsreise befand. Vater ist nun schon
zwei Tage unter der Erde. WaS soll Gerhard also noch in dem Heimat-
städtchen? Sich von gleichgültigen Menschen die Hand drücken lassen,
neugierigen Fragen Auskunft erteilen, Gesprächstoff liefern für klein-
bürgerliche Häuslichkeit!

Allein die Schwester hatte dem Telegramm einen dicken Brief folgen
lassen mit der Abschrift des väterlichen Testaments.

Haus und Garten gehöre ihr. O, es hätte des Hinweises auf ihre
opfervolle Pflege des alten gebrechlichen Herrn nicht bedurft, dies zu
rechtfertigen. Auch nicht der tröstlichen Erwähnung einiger Papiere und
Pfandscheine, die Vater dem Sohn zugesprochen habe. Der alte Justiz-
rat sei schon recht unbeholfen und umständlich in diesen Dingen, Gerhard
müsse schon selbst kommen und klaren Tisch machen.

Selbst kommen! Wahrscheinlich wird die Reise mehr verschlingen als
diese Hinterlassenschaft wert ist. Wie sollte Vater bei seinem bescheidenen
Gehalt Reichtümer angesammelt haben! Wenn die Londoner Firma Ein-
wendungen gemacht hätte, Gerhard wäre sofort geblieben; doch man war
allzu bereitwillig, bat ihn sogar, bei dieser Gelegenheit einen längeren
Urlaub zu nehmen, den er mangels besonderen Interesses lange schon
hinausgezögert hatte.

Gerhards Gedanken beginnen sich inehr mit seinem Ziele zu beschäf-
tigen. Das fpitzgiebelige rebenuinrankte Haus am Kirchplatz gehört also
nun der Schwester. Richtig, sie hat geheiratet vor ein paar Jahren —
er hat wohl nicht einmal seinen Glückwunsch gesandt damals? Sicher sind
auch Kinder da. Eine fremde Familie, die in seinem Elternhaus Heimat
gefunden hat —

Nun ja, möchtest du vielleicht zeitlebens aus den kleinen, grün um-
wobenen Scheiben auf die Kirche und den viereckigen Steinbrunnen
schauen, zeitlebens das holprige Pflaster der Winkelgassen treten, immer
dieselben Gesichter grüßen? Hast du vergessen, wie der kleinliche, mit
Vorurteilen befrachtete Geist dieser Leute dich hinauSgetrieben hatte und
du dir vornahmst, nie mehr zurückzukommen? Nur keine Sentimentali-
täten, Gerhard Sellmann, es ist ja auch ein rein geschäftlicher Grund,
der dich heute in die Heimat führt.

Er nimmt den Nachmittagskaffee im Speisewagen. Später muß er
noch umsteigen in eine kleine Bummelbahn, die ihn gegen Abend zum
Ziel bringt. Sieben Uhr, doch im Sommer ist's noch taghell um diese
Zeit. Nachdem er im Gasthof ein Zimmer belegt und sein Gepäck ein-
gestellt hat, schlendert er, gelangweilt und doch ein klein wenig neugierig,
kreuz und guer durch das Städtchen.

Ein neues Rathaus und Postgebäude, eine etwas eintönige Rand-
siedlung kleiner Eigenheime — sonst scheint so ziemlich alles wie früher.

Auch die längsten Umwege nehmen ein Ende und so steht er schließlich
am Kirchplatz, den er viel größer in Erinnerung hat, als er nun ist.
Ebenso das Haus, das mit spitzem Giebel in den Abendhimmel sticht und
zum Zeichen seines geordneten Innenlebens eine beachtliche blaue Rauch-
fahne aus dem Schornstein gualmt.

Die Mauern scheinen frisch getüncht. Na, Gerhard hätte bestimmt
eine andere Farbe gewählt, nicht dies schmutzige Graugelb. Die Fenster-
laden stimmen schlecht damit zusammen. Was kümmert es ihn? Im
Erkerzimmer wird gerade das Licht angezündet, da sitzt nun die Familie
beim Abendbrot.

Gerhard Sellmann wendet sich ab und überquert mit langen Schritten
den Platz. Heute nicht mehr. Morgen wird er mit dem Justizrat alles
ordnen und besprechen, bei den Verwandten ist dann nur ein kurzer Besuch
nötig.

Im Gasthof kennt ihn niemand. Auch dem Justizrat muß er sich am
nächsten Morgen vorstellen und ausweifen, ehe der alte Herr ihm sein
Beileid ausspricht und umständliche Erklärungen betreffs Testament des
Verblichenen mit feierlich stelzenden Worten vom Stapel läßt.

Einige Anlagepapiere erweisen sich als nahezu wertlos. Dennoch ver-
bleibt ein kleines rundes Sümmchen, das Sellmann senior seinem Sohne
hinterläßt. Der, da er jahrelang kaum von sich hören ließ, nicht ^einmal
zur letzten Stunde des Vaters gekommen war, fühlt sich im Innern
beschämt, möchte am liebsten gar nicht annehmen. Aber hat die Schwester

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Lilly Frick: Das kleine Windrad
 
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