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J U G E

4 1. JAHRGANG

N D

1 9 3 6 / N R. 4 6

Alter Mann am Fenster

Der Tag will leis hinunter schwingen
Ich höre schon den Abend gehn.

Viel Licht ist über allen Dingen,

Die still an einem Fenster stehn.

Ein Schmetterling mit leisem Wiegen
Spielt noch an meinen Blumen hin,

Um auch als letzter fortzufliegen,

Bis ich allein im Zimmer bin.

Da kommt die Einsamkeit gegangen
Und lädt mich ein zur stillen Ruh,

Sie weiß mein tiefes Heimverlangen
Und trägt mir viel Gedanken zu. —

Und breitet über meine Hände
Viel Licht und abendlichen Glanz,

Und nach des Tages stiller Wende
Steigt auf die Nacht im Sternenglanz.

Georg Unterbuchner

lQerberl C^.etnl'iold:

FRISEUR BADERMANN

Auch an jenem für ihn so entscheidenden Tag
zog Meister Badermann die Rolladen seines
Geschäfts Schlag halb sieben Uhr im Morgen
hoch und brachte die blinkenden Messingbecken,
die Wahrzeichen seines Gewerbes, vor der Türe
an. Dann stand er einige Minuten aus dem
schmalen Bürgersteig, der sich rings um den
Marktplatz der kleinen Stadt zog, sah in den
Himmel, der nicht recht blauen wollte, neckte
aber entgegen seiner Gewohnheit einige vor-
übergehende, ihn grüßende Mädchen nicht mit
seinen stadtbekannten harmlosen Späßen. Als
es vom nahen Turme volle sieben Uhr schlug,
stürzte er wie besessen ins Ladeninnere, kramte
ganz zuhinterst in seiner Garderobe und war
bald mit einem blütenweißen Mantel angetan.
Zwei Minuten daraus erschien Herr Stadt-
sekretär Hummel, um sich, wie allmorgendlich,
rasieren zu lassen.

Meister Badermann entbot seinen Gruß,
nötigte seinen Kunden in einen Stuhl, legte ein
Schutztuch um, zog ein Messer ab, schäumte
Seife und begann sein Werk. Herr Hummel
ließ sich beim Einseisen wohlig die Backen
massieren und wartete im übrigen daraus, daß
man ihm daö Tagesneueste sagte. Meister
Badermann aber schwieg sich diesen Morgen
auS. Zwar sprach er einige Worte, doch waren

Geschichte einer Übergabe

seine Sätze zusammenhanglos; er war also
sichtlich zerstreut, so zerstreut, daß ihn Herr
Hummel verwundert anstarrte.

„Hat Sie etwa das Rheuma wieder gepackt,
Meister?" fragte er voll Teilnahme.

„Das Wetter legt sich schon in die Glieder",
antwortete Meister Badermann und setzte das
Messer an.

Solange er schabte, schwieg Herr Hummel.
Herüber und hinüber wendete er den Kopf, so
wie es Meister Badermann die Arbeit erleich-
terte. Dabei sah er oft des Meisters Gesicht
über sich, und eS schien ihm, als wären die
Runzeln darin über Nacht tiefer und grauer
geworden. Die Augen lagen müde und glanz-
los in den Höhlen und die Lippen zuckten
nervös. Sichtlich lastete auf Meister Bader-
mann etwas, das Herrn Hummel, der sich
manchen Vertrauens rühmen durfte, verschwie-
gen worden war.

Als das Geschäft des NasierenS beendet war,
wendete sich Herr Hummel Meister Bader-
mann zu: „Mir scheint, Sie bedrückt etwas,
Meister? Darf man wissen, sozusagen als
treuester Kunde?"

Meister Badermann handhabte Puder und
Kölnisch Wasser und antwortete nicht.

„Na?" Herr Hummel erhob sich. Es ver-

schnupfte ihn, daß man seine Teilnahme auS-
schlug. „Sie werden alt, Meister", sagte er
spitz und ging.

Gottlob kam Meister Badermann nicht dazu,
lange über die ihm gesagte Wahrheit nachzu-
denken. Alle Augenblicke ging die Tür und die
Morgenkunden, der Herr Amtsrichter, der Herr
Forstmeister, Bäckermeister Schirmer, der Herr
Rektor und der Herr Polizeikommissar, kamen
und wollten bedient sein. Es war bald ein
lärmendes Schwatzen im Laden, und keinem
fiel darum die Schweigsamkeit des Meisters
auf. Lediglich der Polizeikommissar meinte beim
Bezahlen, ob es Herrn Badermann nicht wohl
wäre, er mache so einen gedrückten Eindruck.

„Heute ist doch der Tag", sagte da Meister
Badermann.

„Der Tag?" Der Kommissar erinnerte sich
nicht.

„Heute übergebe ich mein Geschäft. Ade
Minute muß mein Nachfolger kommen.
Meister BadermannS Stimme zitterte.

„Hoffentlich ist Ihnen der junge Meister
ebenbürtig", meinte der Kommissar tröstend
und reichte Meister Badermann die Hand.

Atzt schlug es acht Uhr. Meister Bader-
mann wanderte aufgeregt im Laden umher. Da
und dort rückte er etwas zurecht, als es aber

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Herbert Reinhold: Friseur Badermann
Georg Unterbuchner: Alter Mann am Fenster
 
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