Bndceas Heläs Wunäerflssche
Es war früher nicht viel anders als heute:
es gab gute und böse Menschen, etliche gebär-
deten sich lustig und etliche traurig, einige
glaubten leicht und einige schwer, die einen
waren schlau, die anderen waren die Dummen.
DaS Gesicht der Zeiten ändert sich, ihr Wesen
aber bleibt sich gleich.
Droben aus der schwäbischen Alb liegt seit
säst tausend Jahren weltabgeschieden und
idyllisch daS Dorf Justingen. Es wurde auf-
gebaut von Leuten, die einen Ort der Gerechtig-
keit schaffen wollten, denn justuS ist die latei-
nische Bezeichnung für gerecht und die Endung
ingen ist gleichbedeutend mit Stätte.
In diesem Ort der Gerechtigkeit ereignete sich
i'in Jahre des /Heils 1563 folgendes:
Eines Abends sprach bei dem Bauern
Andreas Held, der ininitten von Justingen ein
schönes Anwesen sein eigen nannte, ein fahrender
Scholare vor und bat um ein Nachtlager im
Heu. Obwohl der Bauer nicht viel von
fahrenden Scholaren hielt, die nach seiner
Meinung dein lieben Gott den Tag stahlen,
anstatt im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot
zu verdienen, brachte es Andreas Held nicht
fertig, den späten Gast wieder in die Däm-
merung hinauszuschicken. Er sagte das erbetene
Nachtlager zu, ja er lud sogar den Fremdling
ein, sich mit an den Abendbrottisch zu setzen,
um den bereits Frau und Kinder, Knechte und
Mägde versammelt waren. Es sollte niemand
sagen können, daß Andreas Held nicht wisse,
loaS die Christenpflicht erfordere. Der fahrende
Scholare ließ sich nicht zweimal einladen. Er
setzte sich mit an den Tisch, langte tüchtig in die
Schüssel mit gebranntem Mus und ließ sich das
Roggenbrot schmecken. Den Apfelmost aber,
der ihm vorgesetzt wurde, ließ er stehen. Als er
gefragt wurde, warum er daS Getränk ver-
schmähe, lachte er hochmütig aus. Er zwinkerte
-mit den Augen, tat geheimnisvoll und sagte:
„Warum soll ich schäbigen Most trinken,
wenn ich zu jeder Zeit besten Wein haben
kann?"
klnd noch ehe der Bauer Worte gesunden
hatte, den fahrenden Scholaren auf das Lln-
geziemende seines Benehmens hinzuweisen, hatte
dieser eine Weinflasche auS dem Wams gezogen.
Er hob sie gegen die Kienspanlampe, die über
dem Tisch hing, so daß alle sehen konnten, daß
jie leer sei, und hielt folgende Rede:
„Hochwerter Bauer, verehrte Bäuerin, liebe
Kinder, Knechte und Mägde! Ihr denkt be-
stimmt, ich sei einer jener ganz gewöhnlichen
und gemeinen fahrenden Scholaren, wie sie zu
hunderten durchs Land ziehen. Da habt ihr euch
aber schwer geirrt. Ich bin ein gelehrter Herr,
der zwei Jahrzehnte lang studiert hat von den
dreien, welche die Welt das Glück hat, mich zu
beherbergen, blnd in diesen zwei Jahrzehnten
habe ich gar so manches gelernt, von denen
andere keine Ahnung haben. So ist es «mir
auch gelungen, diese Flasche zu konstruieren.
Eie sieht auS wie eine andere Flasche, aber sie
ist nicht wie eine andere Flasche. Es handelt
sich um eine Wunderslasche. Sie ist, wie ihr
deutlich scheu könnt,, leer. Wenn ich sie aber
zum Fenster in die Nacht hinaushalte, dann
füllt sie sich bis oben hin mit feinstem Wein.
Ich sehe euren Gesichtern an, daß ihr mir nicht
glaubt. DaS kann ich euch nicht übelnehmen,
solange ich euch den Beweis nicht erbracht habe.
Diesen Beweis will ich euch aber nicht schuldig
bleiben. Dann wird euch daS Mißtrauen schon
vergehen!"
Nachdem der fahrende Scholare also ge-
sprochen hatte, stand er auf, öffnete das
Fenster und hielt die leere Flasche hinaus. Nach
Karl Wähmann
Dorfwirtshaus
Es war früher nicht viel anders als heute:
es gab gute und böse Menschen, etliche gebär-
deten sich lustig und etliche traurig, einige
glaubten leicht und einige schwer, die einen
waren schlau, die anderen waren die Dummen.
DaS Gesicht der Zeiten ändert sich, ihr Wesen
aber bleibt sich gleich.
Droben aus der schwäbischen Alb liegt seit
säst tausend Jahren weltabgeschieden und
idyllisch daS Dorf Justingen. Es wurde auf-
gebaut von Leuten, die einen Ort der Gerechtig-
keit schaffen wollten, denn justuS ist die latei-
nische Bezeichnung für gerecht und die Endung
ingen ist gleichbedeutend mit Stätte.
In diesem Ort der Gerechtigkeit ereignete sich
i'in Jahre des /Heils 1563 folgendes:
Eines Abends sprach bei dem Bauern
Andreas Held, der ininitten von Justingen ein
schönes Anwesen sein eigen nannte, ein fahrender
Scholare vor und bat um ein Nachtlager im
Heu. Obwohl der Bauer nicht viel von
fahrenden Scholaren hielt, die nach seiner
Meinung dein lieben Gott den Tag stahlen,
anstatt im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot
zu verdienen, brachte es Andreas Held nicht
fertig, den späten Gast wieder in die Däm-
merung hinauszuschicken. Er sagte das erbetene
Nachtlager zu, ja er lud sogar den Fremdling
ein, sich mit an den Abendbrottisch zu setzen,
um den bereits Frau und Kinder, Knechte und
Mägde versammelt waren. Es sollte niemand
sagen können, daß Andreas Held nicht wisse,
loaS die Christenpflicht erfordere. Der fahrende
Scholare ließ sich nicht zweimal einladen. Er
setzte sich mit an den Tisch, langte tüchtig in die
Schüssel mit gebranntem Mus und ließ sich das
Roggenbrot schmecken. Den Apfelmost aber,
der ihm vorgesetzt wurde, ließ er stehen. Als er
gefragt wurde, warum er daS Getränk ver-
schmähe, lachte er hochmütig aus. Er zwinkerte
-mit den Augen, tat geheimnisvoll und sagte:
„Warum soll ich schäbigen Most trinken,
wenn ich zu jeder Zeit besten Wein haben
kann?"
klnd noch ehe der Bauer Worte gesunden
hatte, den fahrenden Scholaren auf das Lln-
geziemende seines Benehmens hinzuweisen, hatte
dieser eine Weinflasche auS dem Wams gezogen.
Er hob sie gegen die Kienspanlampe, die über
dem Tisch hing, so daß alle sehen konnten, daß
jie leer sei, und hielt folgende Rede:
„Hochwerter Bauer, verehrte Bäuerin, liebe
Kinder, Knechte und Mägde! Ihr denkt be-
stimmt, ich sei einer jener ganz gewöhnlichen
und gemeinen fahrenden Scholaren, wie sie zu
hunderten durchs Land ziehen. Da habt ihr euch
aber schwer geirrt. Ich bin ein gelehrter Herr,
der zwei Jahrzehnte lang studiert hat von den
dreien, welche die Welt das Glück hat, mich zu
beherbergen, blnd in diesen zwei Jahrzehnten
habe ich gar so manches gelernt, von denen
andere keine Ahnung haben. So ist es «mir
auch gelungen, diese Flasche zu konstruieren.
Eie sieht auS wie eine andere Flasche, aber sie
ist nicht wie eine andere Flasche. Es handelt
sich um eine Wunderslasche. Sie ist, wie ihr
deutlich scheu könnt,, leer. Wenn ich sie aber
zum Fenster in die Nacht hinaushalte, dann
füllt sie sich bis oben hin mit feinstem Wein.
Ich sehe euren Gesichtern an, daß ihr mir nicht
glaubt. DaS kann ich euch nicht übelnehmen,
solange ich euch den Beweis nicht erbracht habe.
Diesen Beweis will ich euch aber nicht schuldig
bleiben. Dann wird euch daS Mißtrauen schon
vergehen!"
Nachdem der fahrende Scholare also ge-
sprochen hatte, stand er auf, öffnete das
Fenster und hielt die leere Flasche hinaus. Nach
Karl Wähmann
Dorfwirtshaus