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auch Tanzen. Aus der Rückfahrt blätterte er es
durch, sozusagen Tango Im Bahncoupe. In
dem Buch standen Fußstapsen wie aus srisch-
gesallenem Schnee; die ivaren durch punktierte
Kurven verbunden. Darunter las er: Fig. i:
Die Grundstellung; Mg. 2: Die Promenade;
Fig. 3: Die Acht, und vieles andere. Tzschaege
standen die Schweißtropfen aus der Stirn.
Doch liiit dem Mut der Verzweiflung beschloß
er, den spanischen Stier bei den Hörnern zu
packen. Er beschloß, wenn man so sagen darf,
ein gemeiner Kerl zu werden. Übte eine Woche
lang zu Hause (gegen seine Überzeugung)
genair nach den Fußstapsen — und rückte
dann die Anzeige im Generalanzeiger ein.

llin 3 111)1* nachmittags stand Tzschaege mit
weißer Weste und bebenden Schnurrbartspißen
im Saal des Städtischen Bräuhauses ver-
sammelt. Das Kopfhaar trug er flott über die
Glatze gekämmt, eine sogenannte innere Anleihe.
Daneben saß sein Tapeur, ein schweigsamer
Mann im settigen Bratenrock, der immer ein
Glas Helles auf dem Klavier stehen hatte, ünd
sie kamen, sie kamen: Neun Herren und sechs
Damen (was sich sogar reimt), darunter
Akademiker, bitte... Es waren sozusagen
sämtliche Copidi rerum novarum der ganzen
Stadt, insbesondere auch die Inhaberin eines
Schokoladengeschäfts. Zwei von den modernsten
aber, Herr Lumichau und Herr Tzschertnitzer,
waren insgeheim Todfeinde und gaben sich kalt
die Hand. Tzschaege erklärte in kurzer Be-
grüßungsrede, daß der Tango sehr schwer sei,
und daß er vor allem Wert auf die Grund-
figuren lege. Dann klatschte er in die ZwirnS-
handschuhe, und der Tapeur verfiel in hämmern-
den Musikschlas. Es begann.

Dieser vierwöchige LehrkursuS verlief nicht
ungetrübt. Ich will nichts davon sagen, daß

unter den überzähligen Herren meist die beiden
Todfeinde, Lumichau und TzschertMer, mit-
einander tanzen mußten, jawohl inußten, aus
Gene — was eine Tragödie war, weil es zu-
gleich Furcht und Mitleid erregte —, nein,
aber gegen Mitte des Kursus tauchte bei einigen
ein scheußlicher Verdacht aus: daß das gar nicht
Tango sei! Mit bösen Gesichtern machten sie
die vorgeschrlebenen Bewegungen, die allzu
stark an Polka-Papillon erinnerten... In der
dritten Woche aber merkten diese Unzufriedenen,
daß Tzschaege nach dem Unterricht mit der
Schokoladendame und einigen andern stets
tuschelnd beisammenblieb. Man entsandte
Spione. Eine kränkende Verschwörung kam
ans Licht: um endgültig zu beweisen, daß er
streng modern sei, wollte Tzschaege mit drei
auserwählten Paaren der ganzen Stadt den
Tango vortanzen! Gegen Eintrittsgeld. Neid-
zerfressen kamen die übrigen, die Verschmähten,
jetzt regelmäßig im „Fürst Bismarck" zusammen
und gründeten so etwas wie einen Verein für
Rache und Heimzahlung. Selbst Lumichau und
Tzschertnitzer schlossen oberflächlich Freundschaft.

Wir aber lasen mit angehaltenem Atem im
Generalanzeiger:

„Am 3. November, 8 ühr abends, wird iw
Saale des Städtischen BräuhauseS der
neue Mo d e t a n z T a n g 0
von ineinen Schülern und Schülerinnen vor-
ge führt.

Um zahlreichen Besuch bittet

Tanzlehrer Tzschaege. Entree 30 Pfg."

Der Saal ivar festlich erleuchtet. Rings an
den Wänden, um die Tische mit rotgemusterten
Tischtüchern, saß die ganze Studentenschaft,
trank Helles und schien allerhand zu erwarten.

Der Tapeur trat ein, stellte ein Gläschen
Kirsch aufs Klavier und spielte dröhnend „Ein-
zug der Götter in Walhall" — während
Tzschaege jetzt die drei errötenden Paare mit
krummem Arm hereinführte. Die Handschuhe
lässig abstreisend, begann er nun eine streng
dezente Ansprache, in der er aus die kultureUe
Bedeutung des Tangos hinlvieS und dabei
betonte, daß dieser entzückende Tanz aber auch

richtig getanzt sein wolle — nur sorgsamer
Unterricht, Arbeit, meine Herren, Arbeit und
wieder Arbeit könne dazu führen! Dann
klatschte er in die Hände, der Tapeur sank,
vom Kirsch geschüttelt, cuif die Tasten, nnd die
Vorführung begann.

Was nun folgte, war etwas Unbeschreibliches.
Die Paare hatten, bräutlich geschmückt, wie zu
einem Staffellaus Posto gefaßt. Drei feierliche
Gänse und drei automatisierte Friseurgehilfen
begannen jetzt steif, wie aus punktierten Kurven,
hin tind her zu stapfen, zu knicksen, irgend-
welche idiotische Verbeugungen zu machen,
schauten dann immer wieder ängstlich auf
Tzschaege (der ermunternd nickte), und fuhren
in diesem ihren Tanz, den es nie gegeben hatte,
init verbissener Grazie fort . . .

Anfangs starrte alles atemlos: das ivar ja
unheimlich, das ivar gespenstisch. Dann rollte
von der Ecke her ein Gelächter heran, das lang-
sam zur Höhe deS Saales anschwoll, bis
endlich auch die rotbetuchten Tische ivackelten.
Mit fliegenden Schößen suchte Tzschaege zu
beschivichtigen: die Handschuhe in der Hand,
ging er die Tische entlang, nickte mit dein Kopf
und sagte fortwährend: „Erst selber machen,
dann reden.. . Erst selber inachen, dann
reden ..." Aber schon ging einer -krummbeinig
in fünf Meter Abstand hinter ihm her und
imitierte ivie eine Schießbudenfigur: „Erst selber
inachen, dann reden . . . Arbeiten, meine Herren,
arbeiten und wieder arbeiten . . ."

ünd diesem Augenblick — die Paare tanzten
tödlich weiter — platzte die Bombe der Gegen-
verschwörung. Die Mäntel abstreisend, stand
plötzlich ein bronzebraunes, schwarzhaariges
Paar auf dem Parkett (ein argentinischer
Student mit seinem Liebchen, den die Iungens
eigens per Lastauto auS Mittweida hergeholt
hatten).

ünd die tanzten nun vielleicht wirklich Tango.
DaS ivaren keine Fußstapfen mehr im Schnee,
das waren zwei Flammen, die einander ent-
gegenloderten. Katzenhaft, jeden Takt der
Musik ausnutzend, ivanden sich die zwei Leiber
im Kreis, gaben sich frei, schmiegten sich ein-
ander an, knickten unmerklich in den Synkopen
zusammen, und gehorchten so heiß denn Rhyth-
mus, als ob die Klaviermusik von ihren
Gliedern ausginge. Die tanzten mit dem Dolch
in der Tasche, daS sah man. ünd daS Mäd-
chen hatte noch dazu eine Nelke im Mund-
winkel hängen. Die Schokoladendame ivar zur
Salzsäule erstarrt; der Tapeur wagte nicht,
die Musik abzubrechen: solange die beiden da
mit nimmersatter Tanzgier sich gefährlich an-
saßten und umfaßten, ivie wenn die ganze
Welt aus der Welt verschivunden wäre. ..

Dann aber brach ein Sturin der Begeisterung
loS, der daS Städtische BräuhauS in seinen
Grundfesten erzittern inachte. Sie tobten, sie
schrien, sie hoben das Mädchen auf die
Schultern, das noch iinmer die Nelke im Mund-
winkel hängen hatte. . , Man erzählt, daß das
Ganze dann in ein Pilsener-Bacchanal auS-
geartet ist — Tzschaege seinerseits zahlte hin-
gegen die Abendkasse, erklärte, daß der Tango
jedenfalls gesiegt habe, und ging still nach
Haufe, ünd das merkwürdigste: schon nach
sechs Wochen hat er seinen Kursus mit Erfolg
wiederholt! Die tanzen heute dort alle so.

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Register
Julius Macon: Illustration zum Text "Tango 1912"
 
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