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wert. Er seufzte, schalt sich töricht, gab sich für
ein armes Mädchen namens Lilly aus, wandte
den Kopf weg, als er von feinem Sturz sprach,
so daß sich dieser Sturz als ein versuchter
Selbstmord darstellen konnte, sprach von seiner
Einsamkeit und seinem Abscheu vor den Lebens-
möglichkeiten, die sich den jungen Damen bieten,
deren Familie gestorben ist, kurz, rührte diesen
wackeren Herrn Fabre-Marechal so sehr, daß
dieser brave Mann sich fragte, ob nicht daS
Schicksal ihm einen Fingerzeig gegeben und das
gefühlvolle Herz, das er unter seiner Jacke eines
Familienvaters verbarg, nicht endlich eine
Gelegenheit gefunden habe, zu sprechen. Fabre-
Marechal hatte eine Frau, zwei Töchter und
einen Sohn. Diese Persönlichkeiten befanden
sich zurzeit in Pourville. Fabre-Marechal genoß
sein Junggesellendasein und seufzte beim Ge-
danken an sein Absteigquartier, das er leer
unterhielt und das er eines Tags für irgend
einen Traum zu nutzen gedachte. Er träumte,
erwartete, hoffte. . . und sieh da, wie mit einem
Schlag und wie von einer Fee herbeigezaubert,
saß jetzt ein junges Mädchen in seinem Wagen,
ein Vögelchen von Mädchen, ein junges Ge-
sichtchen, so sanft, so blond, so märchenhaft wie
Melisande.

Fabre-Marechal hielt seine Eroberung für
würdig, seine noch jungfräuliche Wohnung ein-
zuweihen. So kam es, daß Achill plötzlich, statt
gefährdet unter den Blicken der Polizei herum-

zustrolchen, inmitten eines Luxus strandete, der
lang und liebevoll von einem reichen In-
dustriellen vorbereitet worden war, um ein
Idol zu vergolden und zu vergöttern.

Sein Plan war nicht verzwickt: „Wenn er
mich anrührt", sagte er sich, „packe ich ihn,
haue ihn nieder, erleichtere ihn um seine Brief-
tasche und nehme Reißaus."

Aber Fabre-Marechal hatte es anders
beschlossen, bind im Verlauf der Unterhaltung,
angesichts des achtungsvollen Betragens deö
Siebzigjährigen, änderte Achill feine Pläne.
Nach einigen Stunden handelte eö sich um nichts
andres mehr, als „Lilly" unterzubringen, e6 ihr
wohnlich zu machen, sie durch die alte HauS-
meisterin bedienen zu lassen und die Minute zu
erwarten, in der eS dank seinen kleinen Auf-
merksamkeiten Fabre-Marechal gelingen würde,
daS Eis zu schmelzen, eine berechtigte Scham zu
besiegen und seine Glut gekrönt zu sehen.

„Sie verstehen", hatte Achill gesagt, „mit
Ihnen ist es nicht wie mit andern. Ich möchte
Ihnen nicht den Kopf verdrehen und Ihnen
etwas vormachen. Sie wenden sich an mein
Herz... ich warte, bis mein Herz antwortet."
Man sieht, daß er Lebensart befaß und sich aus
der Geschichte zu ziehen wußte.

Ich füge hinzu, daß Fabre-Marechal, trunken
von Liebe und Vertrauen, Lilly fragte, ob sie
nicht eine Freundin kenne, die ihr als Zofe dienen
könne und daß unser Held, indem er blind der

Linie der Opera buffa folgte, die Dienste
Marthes vorschlug und zugebilligt erhielt.

Ich lasse die Überraschung MartheS ahnen,
die tollen Lachausbrüche deö Paars und die
befremdlichen Szenen, die der arme Industrielle
hätte überraschen können, wenn er nicht einen
erstaunlichen Takt in der Jnnehaltung des Stun-
denplans seiner Besuche an den Tag gelegt hätte.

Die ausgefallene Lage dauerte fort. Das
Pärchen wiegte sich in Sicherheit. Die Polizei
beruhigte sich. Fabre-Marechal hoffte. Freilich
färbte sich feit einer Woche feine Hoffnung mit
einer leisen Ungeduld, denn er sah nicht ohne
Furcht den Zeitpunkt nahen, wann die Seinen
zurückkommen würden und befürchtete mit Recht
die Verwicklungen eines Doppellebens.

Marthe fühlte diese Ungeduld. Unverzüglich
riet sie dem jungen Mann, die Zügel ein wenig
zu lockern und zum Beispiel einen „AuSgang"
vorzuschlagen, was der Eitelkeit des Greises
schmeicheln würde. Dieser AuSgang war äußerst
gefährlich. Achill wagte ihn. Man sah sie
zusammen, man tuschelte.

Die Dinge wurden so gespannt, so unhaltbar,
daß Marthe, weniger sorglos, der Sache ein
Ende zu machen beschloß. Es galt eine Waffe
zu kaufen (man weiß nie!) und jetzt, da Achill
ein kleines Vermögen an Schmuck besaß, einen
plötzlichen Überfall zu wagen, wobei der arme
Industrielle geknebelt, gefesselt und allein eine
Nacht inmitten der Ruinen seines Traums ver-

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Heinz Kistler: Aus Königsberg
 
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