Ein Sixpencestück
QLi .0\ath ernte Q^lansfielcl
.Kinder sind unberechenbare kleine Geschöpfe. Warum sollte ein kleiner
Junge wie Dicky, der Ln der Regel artig war lvie Gold, empfindsam,
feinfühlig, solgsain und erstaunlich vernünftig für sein Alter, manchmal
Launen haben, in denen er ahne die leiseste vorausgehende Warnung
plötzlich „tollwütig" wurde, lvie seine Schwestern es nannten, und nichts
mit ihm anzufangen war?
Es hatte beim ^ee angefangen. Während DickvS Mutter und NkrS.
Spears, die den Nachmittag bei ihr verbrachte, ruhig über ihren Hand-
arbeiten im Wohnzimmer faßen, hatte sich, laut Bericht des Dienst-
mädchens, folgendes am Teetisch der .Kinder ereignet. Sie aßen ihr erstes
Butterbrot so brav und artig wie man sich nur wünschen konnte, und
das Ntädchen hatte gerade Milch und Wasser ausgegossen, als Dicky
plötzlich den Brotteller ergriff, ihn sich umgekehrt auf den Kopf stülpte
und das Brotmesser wie einen Säbel präsentierte. „Schaut mich an!"
rief er. Seine verblüfften Schwestern rissen die Augen auf, und ehe das
Dienstmädchen hatte zugreifen können, geriet der Brotteller ins Wanken,
rutschte, fiel und zerbrach in Scherben. In diesem fürchterlichen Augen-
blick erhoben die kleinen Mädchen ihre Stimmen und schrieen in den
höchsten Tönen: „Mutter, komm und schau, was er getan hat! Dicky
hat einen großen Teller zerbrochen. Komm und verbiet's ihin, Mutter."
Man kann sich vorstellen, wie die Mutter angeflogen kann. Aber sie
kam zu spät. Dicky war von seinem Stuhl heruntergerutscht, durch die
Fenstertüre auf die Veranda hinauSgerannt — und da stand ste jetzt und
streifte hilflos ihren Fingerhut an und ab. Was konnte sie tun? Sie
konnte dem .Kind nicht nachlaufen. Es war mehr als peinlich, es war
zum Verzweifeln. Besonders da MrS. SpearS, ausgerechnet Mrs.
Spears, deren zwei JungenS so musterhaft waren, auf sie mi Wohn-
zimmer wartete.
„Schon gut, Dicky", rief sie. „Du wirst deine Strafe schon noch
bekommen."
„Ich habe keine Angst!" kam die kleine Helle Stimme und ein klingen-
des Lachen. Das Kind war ganz außer Rand und Band . . .
„Oh, Mrs. SpearS, ich weiß garnicht, wie ich mich entschuldigen soll,
daß ich Sie so allein gelassen habe."
„Bitte, bitte, Mrs. Bendall", sagte MrS. SpearS mit ihrer sanften,
zuckerigen Stimme und zog dabei auf die ihr eigene Art die Augenbrauen
hoch. Sie schien in sich hinein zu lächeln, während sie einen Saum nähte.
„Diese kleinen Zwischenfälle kommen von Zeit zu Zeit vor. Ach hoffe
nur, es war nichts Ernstes."
„Es war wegen Dicky", sagte Mrs. Bendall und suchte ziemlich
hilflos nach ihrer einzigen dünnen Nadel, klnd sie erklärte MrS. Spears
die ganze Geschichte. „DaS Schlimmste daran ist, daß ich nicht weiß,
lvie ich ihn anpacken soll. Nichts scheint, wenn er in dieser Stimmung
ist, die leiseste Wirkung auf ihn zu haben."
MrS. Spears öffnete ihre blassen Augen. „Auch nicht eine Tracht
Prügel?" sagte sie.
Aber MrS. Bendall, die ihre Nadel einfädelte, verzog den Mund.
„Wir haben die Kinder nie geschlagen", sagte sie. „Die Mädels haben
es nie gebraucht, blnd Dicky ist noch so ein Kind, und der einzige
Junge..."
„Nun, meine Liebe", sagte MrS. Spears und legte ihr Nähzeug lveg.
„Dann wundere ich mich nicht, daß Dicky diese kleinen Anfälle hat. Sie
verübeln mir eS nicht, wenn ich das sage? Aber ich bin sicher, Sie machen
einen großen Fehler, daß Sie die Kinder ohne Schläge zu erziehen ver-
suchen. Nichts kann das wirklich ersetzen. Ach versuchte eS auch erst mit
sanfteren Mitteln" — MrS. Spears zog init einem kleinen Zischlaut
den Atem ein — „aber nein, glauben Sie mir, es gibt nichts besseres, als
sie gelegentlich ihrem Vater auSzuhändigen."
„Ahrem Vater?" fragte MrS. Bendall. „Also Hallen Sie sie nicht
selbst?"
„Nie!" Mrs. Spears schien ganz empört ob der Zumutung. „Ich
glaube nicht, daß eS die Aufgabe der Mutter ist, die 'Kinder durch-
zuhauen. Es ich die Pflicht des Vaters, klnd außerdenl macht das viel
mehr Eindruck auf sie."
„DaS kann ich mir denken", sagte MrS. Bendall matt.
„Ach bin sicher, meine zwei kleinen Aungens" — MrS. SpearS
lächelte MrS. Bendall freundlich aufmunternd an — „würden sich genau
so aussühren lvie Dicky, lvenn sie sich trauen würden. So lvie eS ist
freilich . . ."
„Oh, Ihre Buben sind richtige kleine Musterknaben!" rief MrS.
Bendall.
DaS lvaren sie. Stillere, wohlerzogenere Kinder in der Gegenwart von
Erlvachsenen konnte man nicht finden. Tatsächlich machten Besllcher bei
MrS. Spears oft dik Beinerkung, man hätte nie gemerkt, daß ein Kind
im Hause sei. DaS war auch meist nicht der Fall. Ijn ^L’L" Diele hing
unter einem großen Bild eine alte, nachgedunkelte Reitgerte, die MrS.
SpearS Vater gehört hatte, klnd aliS irgend einem Grunde zogen es die
Buben vor, außer deren Reichlveite zu spielen, hinter der Hundehütte,
oder im Schuppen, oder bei den Mülltonnen.
„Es ist ein so großer Fehler", seufzte MrS. Spears, während sie ihre
Handarbeit zusammenlegte, „schwach mit Kindern zu sein, so lange sie
klein sind. Es ist so unrecht gegen das Kind. Daran muß man immer
denken. So schien mir DickyS über-die-Stränge-schlagen heute nach-
mittag, als habe er es -mit Absicht getan. Es war die Art des Kindes,
Ihnen zu zeigen, daß eS Prügel brauchte."
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QLi .0\ath ernte Q^lansfielcl
.Kinder sind unberechenbare kleine Geschöpfe. Warum sollte ein kleiner
Junge wie Dicky, der Ln der Regel artig war lvie Gold, empfindsam,
feinfühlig, solgsain und erstaunlich vernünftig für sein Alter, manchmal
Launen haben, in denen er ahne die leiseste vorausgehende Warnung
plötzlich „tollwütig" wurde, lvie seine Schwestern es nannten, und nichts
mit ihm anzufangen war?
Es hatte beim ^ee angefangen. Während DickvS Mutter und NkrS.
Spears, die den Nachmittag bei ihr verbrachte, ruhig über ihren Hand-
arbeiten im Wohnzimmer faßen, hatte sich, laut Bericht des Dienst-
mädchens, folgendes am Teetisch der .Kinder ereignet. Sie aßen ihr erstes
Butterbrot so brav und artig wie man sich nur wünschen konnte, und
das Ntädchen hatte gerade Milch und Wasser ausgegossen, als Dicky
plötzlich den Brotteller ergriff, ihn sich umgekehrt auf den Kopf stülpte
und das Brotmesser wie einen Säbel präsentierte. „Schaut mich an!"
rief er. Seine verblüfften Schwestern rissen die Augen auf, und ehe das
Dienstmädchen hatte zugreifen können, geriet der Brotteller ins Wanken,
rutschte, fiel und zerbrach in Scherben. In diesem fürchterlichen Augen-
blick erhoben die kleinen Mädchen ihre Stimmen und schrieen in den
höchsten Tönen: „Mutter, komm und schau, was er getan hat! Dicky
hat einen großen Teller zerbrochen. Komm und verbiet's ihin, Mutter."
Man kann sich vorstellen, wie die Mutter angeflogen kann. Aber sie
kam zu spät. Dicky war von seinem Stuhl heruntergerutscht, durch die
Fenstertüre auf die Veranda hinauSgerannt — und da stand ste jetzt und
streifte hilflos ihren Fingerhut an und ab. Was konnte sie tun? Sie
konnte dem .Kind nicht nachlaufen. Es war mehr als peinlich, es war
zum Verzweifeln. Besonders da MrS. SpearS, ausgerechnet Mrs.
Spears, deren zwei JungenS so musterhaft waren, auf sie mi Wohn-
zimmer wartete.
„Schon gut, Dicky", rief sie. „Du wirst deine Strafe schon noch
bekommen."
„Ich habe keine Angst!" kam die kleine Helle Stimme und ein klingen-
des Lachen. Das Kind war ganz außer Rand und Band . . .
„Oh, Mrs. SpearS, ich weiß garnicht, wie ich mich entschuldigen soll,
daß ich Sie so allein gelassen habe."
„Bitte, bitte, Mrs. Bendall", sagte MrS. SpearS mit ihrer sanften,
zuckerigen Stimme und zog dabei auf die ihr eigene Art die Augenbrauen
hoch. Sie schien in sich hinein zu lächeln, während sie einen Saum nähte.
„Diese kleinen Zwischenfälle kommen von Zeit zu Zeit vor. Ach hoffe
nur, es war nichts Ernstes."
„Es war wegen Dicky", sagte Mrs. Bendall und suchte ziemlich
hilflos nach ihrer einzigen dünnen Nadel, klnd sie erklärte MrS. Spears
die ganze Geschichte. „DaS Schlimmste daran ist, daß ich nicht weiß,
lvie ich ihn anpacken soll. Nichts scheint, wenn er in dieser Stimmung
ist, die leiseste Wirkung auf ihn zu haben."
MrS. Spears öffnete ihre blassen Augen. „Auch nicht eine Tracht
Prügel?" sagte sie.
Aber MrS. Bendall, die ihre Nadel einfädelte, verzog den Mund.
„Wir haben die Kinder nie geschlagen", sagte sie. „Die Mädels haben
es nie gebraucht, blnd Dicky ist noch so ein Kind, und der einzige
Junge..."
„Nun, meine Liebe", sagte MrS. Spears und legte ihr Nähzeug lveg.
„Dann wundere ich mich nicht, daß Dicky diese kleinen Anfälle hat. Sie
verübeln mir eS nicht, wenn ich das sage? Aber ich bin sicher, Sie machen
einen großen Fehler, daß Sie die Kinder ohne Schläge zu erziehen ver-
suchen. Nichts kann das wirklich ersetzen. Ach versuchte eS auch erst mit
sanfteren Mitteln" — MrS. Spears zog init einem kleinen Zischlaut
den Atem ein — „aber nein, glauben Sie mir, es gibt nichts besseres, als
sie gelegentlich ihrem Vater auSzuhändigen."
„Ahrem Vater?" fragte MrS. Bendall. „Also Hallen Sie sie nicht
selbst?"
„Nie!" Mrs. Spears schien ganz empört ob der Zumutung. „Ich
glaube nicht, daß eS die Aufgabe der Mutter ist, die 'Kinder durch-
zuhauen. Es ich die Pflicht des Vaters, klnd außerdenl macht das viel
mehr Eindruck auf sie."
„DaS kann ich mir denken", sagte MrS. Bendall matt.
„Ach bin sicher, meine zwei kleinen Aungens" — MrS. SpearS
lächelte MrS. Bendall freundlich aufmunternd an — „würden sich genau
so aussühren lvie Dicky, lvenn sie sich trauen würden. So lvie eS ist
freilich . . ."
„Oh, Ihre Buben sind richtige kleine Musterknaben!" rief MrS.
Bendall.
DaS lvaren sie. Stillere, wohlerzogenere Kinder in der Gegenwart von
Erlvachsenen konnte man nicht finden. Tatsächlich machten Besllcher bei
MrS. Spears oft dik Beinerkung, man hätte nie gemerkt, daß ein Kind
im Hause sei. DaS war auch meist nicht der Fall. Ijn ^L’L" Diele hing
unter einem großen Bild eine alte, nachgedunkelte Reitgerte, die MrS.
SpearS Vater gehört hatte, klnd aliS irgend einem Grunde zogen es die
Buben vor, außer deren Reichlveite zu spielen, hinter der Hundehütte,
oder im Schuppen, oder bei den Mülltonnen.
„Es ist ein so großer Fehler", seufzte MrS. Spears, während sie ihre
Handarbeit zusammenlegte, „schwach mit Kindern zu sein, so lange sie
klein sind. Es ist so unrecht gegen das Kind. Daran muß man immer
denken. So schien mir DickyS über-die-Stränge-schlagen heute nach-
mittag, als habe er es -mit Absicht getan. Es war die Art des Kindes,
Ihnen zu zeigen, daß eS Prügel brauchte."
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