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„Glauben Sie wirklich?" MrS. Bendall war ein schwaches kleines
Persönchen und daS beeindruckte sie sehr.

„Dach ja; ich bin dessen sicher. Und ein scharfer Denkzettel dann und
wann", ries Mrs. SpearS in einer ganz sachlichen Art, „vorn Vater
verabreicht, wird Ihnen so viel Arger in der Zukunft ersparen! Glauben
Sie mir das, meine Liebe." Sie legte ihre kalte, trockene Hand aus die
Mrs. Bendalls.

„Ich werde mit Eduard sprechen, sobald er heimkommt", sagte Dickys
Mutter entschlossen.

Die Kinder waren zu Bett gegangen, als die Gartentüre ins Schloß
schlug und DickyS Vater mit seinem Fahrrad die steile, geschlossene
Treppe herausgestapst kam. Es war ein böser Tag im Büro gewesen.
Er war erhitzt, verstaubt, erschöpft. Aber inzwischen hatte sich Mrs.
Bendall sür den neuen Plan begeistert. Sie selbst machte ihm die Türe
auf. „Oh, Eduard, ich bin so froh, daß du da bist!" ries sie.

„Warum, was gibt's?" Eduard stellte daS Fahrrad hin und nahm
seinen Hut ab. Eine rotgeschwollene, ärgerliche Ader erschien da, wo
der Hutriemen gedrückt hatte.

„Komm ins Wohnzimmer herein." MrS. Bendall sprach sehr hastig.
„Ich kann dir einfach nicht sagen, wie ungezogen Dicky heute war. Ich
habe alles versucht, Eduard, aber nichts will helfen. Das Einzige ist",
vollendete sie atemlos, „ihn durchzuhauen, daß du ihn durchhaust."

„Aber warum sollte ich damit ansangen, ihn zu hauen?" sagte Eduard.
„Wir haben daS bis jetzt nie getan."

„Weil, weißt du", sagte seine Frau, „eS das einzig Richtige ist. Ich
habe keine Macht über daS Kind." Ihre Worte flogen von ihren Lippen.
Sie hämmerte auf ihn ein, auf seinen ermüdeten Schädel. „Wir können
uns kein Kindermädchen leisten, bind seine Ungezogenheit läßt sich gar-
nicht mit Worten sagen. Du weißt das nicht, Eduard, weißt eS nicht,
denn du bist den ganzen Tag im Büro."

Eduard sank in seinen Stuhl. „Womit soll ick) ihn schlagen?" sagte er
schwach.

„Mit deinem Pantoffel natürlich", sagte seine Frau, die niederkniete,
um ihm seine staubigen Schuhe auszuschnüren. „Oh, Eduard", jammerte
sie, „du hast noch deine Radsahrklammern an, — im Wohnzimmer!
Nein, wirklich .. ."

„Nun, genug!" Eduard stieß sie fast weg. Er stieg die Treppe hinaus.
Und jetzt wollte er Dicky schlagen. Jawohl, verflucht nochmal, er wollte
etwas prügeln!

Er stieß die Türe von DickyS Kämmerchen aus. Dicky stand in seinem
Nachthemdchen mitten im Zimmer. „Nun, Dicky, du weißt, warum ich
gekommen bin", sagte Eduard. Dicky machte keine Entgegnung. „Ich
bin gekommen, um dir eine Tracht Prügel zu verabreichen." Keine Ant-
wort. „Mach keine Umstände", sagte Eduard und damit verabfolgte er
Dicky mit seinem Pantoffel drei harte Streiche. „Da, daS wird dich
lehren, dich anständig gegen deine Mutter zu betragen."

Dicky stand da und ließ seinen Kops hängen.

„Eil dich und marsch in dein Belt", sagt sein Vater.

Noch immer rührte Dicky sich nicht. Aber eine bebende Stimme sagte:
„Ich habe meine Zähne noch nicht geputzt, Pappi."

„Was ist los?"

Dicky schaute aus. Seine Lippen flatterten, aber seine Augen blieben
trocken. Er gab keinen Laut von sich und vergoß keine Träne. Er
schluckte nur und sagte würgend: „Ich habe meine Zähne nicht geputzt,
Pappi."

Aber beim Anblick dieses kleinen Gesichts wandte Eduard sich weg
und nicht wissend, was er tat, stolperte er die Treppe hinunter und
hinaus in den Garten. Guter Gott! Was hatte er getan? Dicky geschla-
gen — seinen kleinen Puppemann «mit einem Pantoffel geschlagen —
und weswegen das, zum Teufel? Er wußte es nicht einmal. Plötzlich
war er ins Zimmer gestürzt — und da stand der kleine Kerl in seinem
Nachthemd, bind weinte nicht eininal. Nicht eine Träne. Wenn er nur
geweint hätte oder zornig geworden wäre. Aber dieses: Pappi bind
wieder hörte er das würgende Geflüster. So zu verzeihen, ohne ein Wort!
Aber er selbst würde sich nie verzeihen — nie! Feigling! Rohling! bind
plötzlich erinnerte er sich, wie Dicky einmal von seinem Knie herunter-
gefallen war und sich das Handgelenk verstaucht hatte, als sie mit ein-
ander spielten. Auch damals hatte er nicht geweint, Und das war der
kleine Held, den er soeben geschlagen hatte.

Irgend etwas mußte getan werden, dachte Eduard. Er ging zurück zum

Haus, die Treppe hinaus in DickyS Zimmer. Im Halblicht hob sich
DickyS dunkler Kops, mit dem waagrecht geschnittenen Stirnhaar, deut-
lich von dem fahlen Kissen ab. Er lag ganz still, und selbst jetzt weinte er
nicht. Eduard machte die Türe zu und lehnte sich mit dem Rücken da-
gegen. WaS er tun wollte, war an DickyS Bett niederknieen und selbst
weinen und um Verzeihung bitten. Aber natürlich, so etwas kann man
nicht tun.

„Schläfst du noch nicht, Dicky?" sagte er obenhin.

„Nein, Pappi."

Eduard kam und setzte sich aus das Bett seines Sohnes, und Dicky
sah ihn durch seine langen Wimpern hindurch an.

„Fehlt's irgendwo, kleiner Mann?" fragte Eduard, fast flüsternd.

„Nei—n, Pappi", kam eS von Dicky.

Eduard streckte seine Hand vor und ergriff sorglich DickyS heiße kleine
Pfote.

„Du... du mußt nicht daran denken, was eben gewesen ist, kleiner
Mann", sagte er heiser. „Verstanden? DaS ist jetzt alles vorbei. Ist
vergessen. DaS wird nie wieder Vorkommen. Verstanden?"

„Ja, Pappi." Dicky lag still wie zuvor. Das war schrecklich. DickyS
Vater sprang auf und ging zum Fenster hinüber. Es war noch nicht
völlig dunkel iin Garten. DaS Mädchen war hinausgelaufen und holte
weiße Wäsche von den Büschen herunter und bündelte sie über ihrem
Arm. Aber in dem grenzenlosen Himmel glänzte der Abendstern und ein
großer Ahornbaum, schwarz gegen den fahlen Schimmer, bewegte leise
seine gefingerten Blätter. All das sah er, während er in seiner Hosen-
tasche nach seinem losen Geld tastete. Er holte eS hervor, wählte ein
neues Sixpencestück und ging zu Dicky.

„Da hast du was, kleiner Mann. Kaus dir was", sagte Eduard leise
und legte das Sixpencestück aus DickyS Kissen.

Aber konnte selbst das — konnte selbst ein ganzes Sixpencestück —
vergessen machen, was gewesen war?

(Berechtigte Übertragung von Hans B. Wagenseil.)

Porträt

H. Kistler
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Heinz Kistler: Porträt
 
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