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Winter August Beck

Da — flimmerten die ersten elektrischen
Bogenlampen der Stadt Bethlehem aus. Wie
Glasaugen auSgestopster Raubvögel.

Über den Schnee sangen Glocken. Kinder-
hell. Ausgetürmte Feuermauern wuchsen schwarz
in die Nacht hinein. Magere Türme über-
wachten neidisch ihren Wuchs.

Die ersten Trambahnhäuschen kamen.

Die zwei Heiligen gingen den Schienen nach.
Joseph sammelte sonst auch Straßenbahn-
billetts. Aber er war heute schon zu müde, um
sich zu bücken.

Bor einem Wirtshaus stand ein römischer
Maronibrater. An seiner Osentüre wärmten
sie sich die Hände, bind dann traten sie aus eine
kleine Weile in den HauSgang ein. Ihm war
der Hosenträger gerissen.

Sie schüttelte sich die Flocken aus dem Haar.
In seine streichelnden Hände hinein.

„Druckt di' der Stiefel?"

„Joseph, mir is' nicht guat...!"

„Oder gehst aus an Nagel?"

„I weiß net, wo's fehlt..."

„Hast nasse Füaß?"

„Wenn wir nur schon was zum Schlafen
hätten! ..."

Alle Gasthöse waren bis unters Dach hinauf
mit Fremden angesüllt. In den Badewannen

schliefen Amerikaner und in den Kommoden-
schubladen Engländer.

Weiter! Den Berg hinauf — da kamen rot-
durchleuchtete Fenster. Dahinter Geigenstriche
und S oub retten tri ll er.

Die beiden Heiligen standen vor dem Beth-
lehemer Kabarett: Das Nachtlicht! Joseph
hielt es für ein christliches Hospiz.

Unter dem Emailleschild „Fremdenzimmer"
lies eine Glocke in die Mauer. Er läutete
schüchtern. Der Portier wankte heran. Warf
vorauseilend seinen Kops als Schatten durch
das Milchglas. Aus seinem Gesicht lachte die
Fülle eines reichhaltigen Glückshafens, der auf
die Verlosung wartet. Seine Augen steckten als
Billardkugeln im sulzigen Antlitz, zu dessen
beiden Seiten die Ohren als zu massiv geratene
Henkel befestigt waren.

Durch den Türspalt wehte der Geruch des
Abendessens. Der Portier leuchtete die Armen
mit seiner Taschenlampe ab. Und da Joseph
weder Cutaway noch Monokel trug — und
Maria nicht einmal nach Eau de Cologne roch
und keine polierten Fingernägel hatte — schlug
der Portier daS Tor wie einen Raubtierkäsig
wieder zu.

Drinnen knallten Sektpfropfen, Rund-
gesänge stiegen aus, Walzer plätscherten warm
dazlvischen hinein ...

In Marias Füßen war bald kein Schritt
mchr.

An allen Dachrinnen lasen sie die aufgekleb-
ten, handgeschriebenen Zettel ab. Aber der
Regen und Schnee hatte sie gänzlich verwaschen.

Um so ntehr ihre Not wuchs, um so lichter
strahlten ihre Heiligenscheine. Sonnengelbe
Kreise warfen sie vor ihre Tritte her in den
blauen Schnee. Wie frischgeputzte Fahrrad-
lampen ...!

Maria sank aus die Stufen des Bühnen-
eingangs zum Bethlehemer Stadttheater hin.
Auf dem Programmzettel standen „Hasemanns
Töchter" angekündigt. — Held, Charakter-
spieler, Liebhaber, Naive, komische Alte und
Heldenvater gingen ohne Blick an den Armen
vorüber. Sie hielten die zwei Heiligen für
Garderobesrau und Logendiener.

„Joseph, jetzt werd'n ma halt unter der
Eisenbahnbrücken übernachten müssen ...?"

Die Souffleuse huschte vorbei. Sie sah die
fremde Armut durch ihre eigene durch. Und
holte für Maria aus der Apotheke Baldrians-
tropfen und Psesferminzpastillen. Dann zeigte sie
ihnen den Weg in Bethlehems Dorstadt hinaus,
wo sie in einem Hinterhaus einen Mietstall wußte.
Zwischen Schutt und Müll. An Kiesgruben
vorbei... Durch einen grauen Hof mit Kehricht-

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August Beck: Winter
 
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