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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 42.1937, (Nr. 1-52)

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A DAGIO

4 2. JAHRGANG

1 937 / NR. 6

Zwischen den doppelfarbenen Seiden
tasten die irren, trunkenen Träume,
sinken im Abendnebel wie Leiden,
tropfen in Silberschalen und meiden
nicht die im Lichte strahlenden Räume.

Träume, Geliebte, tasten im Sehnen,
tasten wie zärtlich bebende Hände,
wenn in des Freundes Augen die Tränen,
und sich die Stunden endlos noch dehnen,
dunkler als unbeleuchtete Wände.

Träume in doppelfarbenen Seiden
gleichen dem Schimmer alter Opale,
heute zur Lust geschaffen uns beiden,
einstens zur Zier den Schwertern der Heiden,
trunken im Glanz der silbernen Schale.

Rudolf Ernst Berger

EINSAME FAHRT

Skizze von Ruth Storm

Steif blies der Ostwind über die verharschten Schneefelder. Die
Sonne stand wie eine gelbe Scheibe hinter trüben Wolken. Grau
und weiß war die Landschaft, nur vereinzelt dunkle Flecke —
frierende Krähen.

Ein Soldat, der Holsteiner Orge Marsch, saß steifgefroren auf
dem schmalen Holzbrett unter der Plane des schiefen Bauern-
wägelchens, ein graues Wolltuch fest um den Kopf geschlungen,
daß nur die Augen sichtbar waren. Die Fäuste mit den starren
Leinen hatte er in seinen Taschen vergraben, die beiden strup-
pigen Panjepferdchen stolperten mit gesenkten Köpfen voran.
Wie weit war der Weg, wie endlos schien der Himmel hier in
diesem fremden Land zu sein. Stundenlang war Orge schon
unterwegs, aber immer noch stand die gelbe Scheibe über der
Ebene, als wenn sie sich nicht gerührt hätte, der Weg sich um
sie herum gekrümmt hätte, wie ein Rad sich um seine Achse
dreht. Da, und so hatte man ihm auch geraten zu fahren: „Du
brichst früh auf, die Sonne vor dir, aber dann so um die Mittags-
zeit wirst du dich westlicher halten, wieder der Sonne zu!"

Da, der Kamerad hatte gut reden, in Wirklichkeit sah alles anders
aus! Orge Marsch legte sich etwas zurück und hielt die Pferde
an, wickelte sich aus der Decke und kletterte schwerfällig aus
dem Wagen. Es knirschte und klirrte unter seinen schweren
Stiefeln. Am Tage vorher hatte es geregnet, Löcher, tiefe
Wagenspuren und Hufabdrücke waren mit Eis gefüllt, gleich
klirrendem splitternden Glas.

Er ging um den Wagen herum, aber nach allen vier Richtungen
war die Erde gleich weiß, der Himmel gleich grau, der Sturm
gleich pfeifend von keinem anderen Laut unterbrochen.

Orge Marsch stieg wieder ein, und wenn nicht vor ihm die
beiden nickenden Pferde gewesen wären, aus deren Nüstern
der Dampf des Lebens strömte, dann hätte er geglaubt, daß er
in die Endlosigkeit führe, auf dem Wege zu Gott — so losgelöst
von aller Erdhaftigkeit erschien ihm die Fahrt. Und weiter
schwankten die Räder über das brechende klingende Eis, im
Schrittempo. Warum sollte er auch schnell fahren, bei dieser
Gräue, diesem Sturm. Wußte er doch nicht mehr, wo hier das
Ende war. Ach, einmal in aller Ruhe zurückdenken, zurück!

Ganz weit im Nordwesten, dachte Orge Marsch, zwei Eisenbahn-

tage weit, liegt der Heugerhof. Auf den Wiesen steht jetzt noch
das Vieh, es wird diesig sein, vom Meer tönt das Nebelhorn. —
Orge Marsch lächelte unter dem grauen Wollschal. Wie blond
deine Haare sind, Anna Twenhaart, so blond wie die gelbe
Scheibe hier hinter den Wolken Rußlands. Groß ist Rußland,
größer als das Meer nach Island hin, wo dein Vater und die
Brüder einst die schweren Netze zogen. Ich fahre in dieser
Einsamkeit für dich, Anna, nein, nicht für dich allein, sondern
für unsere Kinder, für Heuger und Ines Marsch, aber auch viel-
leicht nicht für sie, sondern für unser Geschlecht, für unsere Art,
stolze Anna Twenhaart, ich bin Soldat! Soldat —

Und wie das Wort ihm leise über die Lippen sprang,, wurde der
Weg vor ihm sichtbar bis zum Horizont. Er sah Rauch aufsteigen
und eng aneinander gedrückte Hütten — die feindlichen Stellungen.
Er riß die Leinen hoch, schwenkte rechtsum auf das Feld, schwang
die Peitsche über den Pferden und feuerte sie mit heiseren
Lauten an, Hitze durchpulste seinen Körper bis zu den steif
gefrorenen Zehen. Im scharfen Trab lenkte Orge sein Fuhrwerk
über die zugefrorenen Wiesen und Sümpfe westlicher der Sonne
der deutschen Front entgegen.

Das Tuch war unter sein Kinn gerutscht, verweht das Lächeln,
die hellen Augen waren hart, zusammengezogen und stechend.
Als er den ersten Posten erreichte, hielt er die dampfenden
Tiere an. „Bist du verheiratet, Kamerad?" sagte er und wischte
sich über die nasse Stirn.

Nein, er wäre erst zwanzig Dahre alt!

Orge Marsch beugte sich vor und sah in das junge Gesicht des
andern. Da, dann wüßte der sicher nicht, wie froh er wäre.
Orge wies auf ein paar Löcher, kreisrunde Löcher, hinten in der
Plane.

„Stehen die so nahe?" fragte der Posten und wandte seinen
Blick nach der Richtung, aus der er gekommen war. Aber die
Nebel hatten sich wieder verdichtet.

„Gott steht näher, Kamerad, Gott steht näher!" Orge Marsch
lachte von innen heraus, er nahm die Zügel in die Rechte und
schritt neben dem Wagen her, dem nahen Quartier zu Vor ihm
stand die gelbe Sonnenscheibe, leicht nach Westen geneigt,
dort wo die blonde Anna Marsch-Twen haart aus der schweren
eichenen Haustür trat, den Blick sinnend nach Osten gerichtet.

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Register
Rudolf Ernst Berger: Adagio
Ruth Storm: Einsame Fahrt
 
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