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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 42.1937, (Nr. 1-52)

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4 2. JAHRGANG

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DER TEUFEL AN BORD

Von Eibe Heye

Pastors Karl und ich waren in den Juliferien bei dem Doktor
Christoph Dunker, bei Christoph Kolumbus. So riefen die Leute
in dem kleinen Fischerdorf hinterm Deich ihren jungen Arzt, er
war ein Jahr als Schiffsarzt gefahren und hatte scharfe Augen
und eine gute Nase für Wind und Wetter. Und da die Männer
und Frauen im Sommer keine Zeit hatten, sich in die Betten zu
legen und krank zu sein, konnte Kolumbus mit uns beiden
immer am Deich und im Vorland am Strand herumstromern. Aber
er mußte stets in der Nähe des Gastwirts Parjens am Siel
bleiben; wenn man dort am Telephon den Arzt rief, stieg der
Wirt oben auf den Deich und schwenkte eine große blaue
Kaffeedecke von seinem Gartentisch als Fahnensignal für
Dunker, dann lief der Arzt an sein Motorrad, das immer an der
großen Pappel am Siel bereitstand.

So lagen wir immer ein wenig an kurzer Kette angepflockt, aber
unseren kleinen Umkreis durchliefen und durchwühlten wir so
gründlich, daß uns jeder Grashalm und jede weiße Muschel-
schale bekannt war und jeder angetriebene Flaschenkorken und
Strunk einer alten Bastmatte für uns seine Geschichte hatte.
Wenn wir einmal den Weg nahmen um den großen Deichknick
herum, war es wie ein Vorstoßen, wie eine Expedition ins
Neue, Ungewohnte, und immer mußte einer von uns dreien wie-
der zurücklaufen, auf den Deich klettern und Ausschau halten,
ob auch die blaue Flagge winke. „Jungens, ich wette, wenn
wir uns nur einmal hier hinter der Deichbiegung in der Fremde
ansiedeln, dann hat gerade Fortuna gerufen und wollte mir eine
kleine Epidemie im Dorf oder doch mindestens einen ordent-
lichen Armbruch schenken — man soll dem Weib nie außer Ruf-
weite sein!" Wir waren solche handfeste Rede gewohnt von
meinem Onkel Eduard, dem alten Arzt zu Haus, den Kolumbus
wie auch den Vater Karls, den Pastor, verehrte. Wir Knaben
zählten immer, wie oft Dunker so nebenbei im Tag die beiden
alten Männer erwähnte — er sah zuletzt unser Aufmerken und
sagte rasch: „Ich red' mit euch Satansbrut so, daß ihr kein
Heimweh bekommt." Heimweh? Heimweh, hier bei Christoph
Kolumbus?

Abends saßen wir unter der Lampe und knobelten, wer in der
Nacht mit dem Arzt fahren dürfe, wenn das Telephon durchs
Haus schrie oder ein Mensch zaghaft gegen die Fenster pochte
und Dunker rufen würde.

Am Freitag gab es Sturm. Ich hatte am Abend zehn Augen
gewürfelt, Karl nur acht: Nun saß ich da, schloß die Augen
und wünschte stark eine Fahrt in dieser Nacht. Es heulte ums
Haus, und die hohen Pappeln sangen. Kolumbus hatte vor dem
Abendessen noch einen Brief von der Post geholt, er lehnte
tief versunken im großen Stuhl am Schreibtisch, während wir
den Würfelbecher schüttelten. Er schrak auf, als wir eine Zeit-
lang stille waren, die Ellenbogen auf den Tisch stemmten und
die Hände gegen die Backen knautschten und ihn unverwandt
ansahen. Karl fragte mit der tiefen Stimme seines Vaters im
Pastoralen Ton: „Und hat der große Christoph Kolumbus von
seiner Königin ein leutseliges Schreiben empfangen?" Er wischte
noch rechtzeitig hinter dem Tisch hervor und sprang in die
Küche zu Mutter Bardenhagen hinaus und blieb dort lange.
Dunker sagte: „Der ist bei den Kompottgläsern — und du?" —
„Ich lass' ihn fressen, ich hab' beim Knobeln zehn Augen ge-
worfen und fahre mit Christoph Kolumbus." — „Es stürmt diese
Nacht, Junge." — „Werden wir rausmüssen?" — „Der Fischer
Kruse hat mir sagen lassen, seine Frau liege in den Wehen. Die
Hebamme ist schon dort, vielleicht werd' ich noch gerufen." —
„Lassen Sie mich dann nicht schlafen, bitte." —

Mitten in der Nacht um 2 Uhr ging es los. Ich hatte selbst das

Telephon gehört und war rasch in die Kleider gefahren und auf
die Diele nach dem Motorrad gelaufen. Dunker schlich durch
das Haus, er hatte mich schlafen lassen wollen bei diesem
Wetter, er kam auf Zehenspitzen, aber ich sah, daß er sich
freute, als er mich schon hinter der Maschine stehen fand. Wir
fuhren mit dem Sturm im Rücken. „Jetzt ein anständiges Segel
hoch, und wir könnten fahren still wie der fliegende Holländer.
Halt' dich fest. Junge!"

Ich saß am Herd in der Küche des Fischerhauses und hockte in
einem tiefen Lehnstuhl, die Beine angezogen auf den Sitz, und
sah zwischen Wachen und Träumen immer den Fischer Kruse vor
mir auf- und niedergehen; die Frau lag in der Stube nebenan
im Alkoven und wimmerte leise. Oftmals strich der Mann nah
an mir vorüber in seinem Wandern von Wand zu Wand im engen
Raum, und ich spürte, daß es ihm eine Wohltat war, ein lebendes
Wesen nahe bei sich in seiner Einsamkeit zu haben. Er sprach
kein Wort mit mir, aber manchmal berührte seine Hand meine
Ellenbogen — da streckte ich vorsichtig den Arm noch ein
wenig weiter vor über die Lehne des Stuhles hinaus. —

Gegen Morgen kam Dunker heraus und nahm den Fischer bei
beiden Schultern: „Kruse — Vadder, es ist ein Junge — und
nun kommen Sie herein."

Wir waren wieder draußen, Dunker schob das Motorrad auf den
Weg, er brummte: „Ein Junge, gut geholt, wie es sich für einen
jungen Medizinmann gehört, der sich der Freundschaft deines
Onkels Eduard würdig erweisen will. — Rauf aufs Rad! Und nun
festhalten und nicht einschlafen, denk nicht: Ein Junge neu in
der Welt, da kann ein anderer hinten vom Rad verschütt gehen!"
Der Sturm hatte sich gelegt, die Sonne kam aus grauen Schleiern
hinter der Pappelreihe der Straße nach der Geest hoch. Dunker
drehte den Kopf halb herum im Fahren: „Jetzt ins warme Bett."
Ich kniff ihn in den Arm, bis er lachte: „Wir fahren noch rasch
am Siel über den Deich, will mal sehen, ob es in dieser Höllen-
nacht Strandgut gegeben hat. Kennst du das alte Kirchengebet
hier im Land? Gott segne den Strand!" — „Kolumbus, wenn nun
ein Ozeandampfer aufgelaufen ist im Watt und so zweihundert
bis dreihundert Passagiere verletzt sind —", da bremste Dunker
scharf, hielt an, wandte sich zu mir um und haute mir eins hinter
die Ohren, daß ich fast vom Sitz geflogen wäre. Dann fuhr er
weiter. Ich trommelte auf seinem Rücken: „Wegen Strandgut,
Kolumbus!" Er knurrte und pfiff im Fahren.

Draußen war Ebbe, blank und weit lag der Schlick. Drei Fischer
standen vorm Deich und guckten hinaus in das Watt. Jetzt
sahen wir dort hinten ganz im Morgengrauen einen dunklen
Punkt, wie einen dicken Klotz in der Leere liegen: Ein Schiff.
„Kleiner Fischkutter, wird wohl auf dem Schlick aufsitzen",
meinte Dunker. — „Und da! Sehen Sie den Punkt zwischen Schiff
und uns?" — Wir traten an die Fischer heran, einer sah durch
sein langes Fernrohr. „Der kommt angesprungen, ist sicher der
Junge vom Kutter. Ob sein Baas über Bord gegangen ist in der
Deubelsnacht?" Dunker sagte: „Achterm Deich ist bei Mathias
Kruse heut morgen ein neuer Baas geboren, ein strammer Junge
— Ersatz ist immer da." Die Fischer knurrten: „Deubelsdoktor"
und stießen dem Arzt in die Seite; ich sah, daß sie ihn liebten
und darum einmal mit der Hand hinlangen mußten.

Der Junge kam aus dem Watt. Wir liefen ihm entgegen. Tod-
matt war er, grün im Gesicht, die Augen voll Tränen, und die
Arme hingen ihm schlaff herunter und baumelten am Körper wie
zwei dicke Tauenden.

Dunker fing ihn in den Armen auf und hielt ihn an seiner Brust,
die Fischer gaben dem Jungen einen Schluck aus der Flasche —
da heulte er los und wimmerte in holländischer Sprache wirres

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Eibe Heye: Der Teufel an Bord
 
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