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ANGST

V o 11 E r i ch % 11 u fc R e r 11 111 a y r

uth ging mit leichten Schritten durch
den Abendnebel. Die Lichter der Stadt
unten am Berg glommen wie kleine
Allerseelenlänipchen zu ihr herauf. Der
hohe Dannenwald rechts des kiesigen
Weges wuchtete wie eine steile, undurch-
dringliche Mauer in die sich verdichtende
Dunkelheit. Eigentlich war es ein wenig
unheimlich jetzt heroben auf dem kleinen
Berg. Etwas zu einsam.

Aber Ruth liebte die stillen Stunden, in
denen man so ganz allein ist mit seinen
Gedanken, mit seinen wünschen. Da legt
sich keine nüchterne, kalte Wirklichkeit
zwischen uns und unsre Traume.

Irgendwo in der dunklen waldmauer
schrie ein Vogel. Schrill und ohne wohl-
klang zitterte der jähe Laut durch die
hereinbrechende flacht.

Ruth dachte einen Augenblick an die
alte Großmutter, die ihr vom Totenvogel
erzählt hatte. Unwillkürlich schritt sie
schneller aus. wie endlos der Weingarten-
weg heute wurde! Es wäre vielleicht doch
bester gewesen, heute aus dem Berggast-
haus etwas früher wegzugehen, Hie und
da raschelte es im Wald, und geheimnis-
volle Schritte kamen und verklangen

unweit von ihr. Manchmal knisterten und
krachten die dürren Äste auf dem weichen
Waldboden. Dann wieder flackerte der
Mond durch die hohen Baume, die ihre
Schatten über den weg warfen. Ohne
es zu wollen, fiel ihr der furchtbare Raub-
mord ein, der sich vorige Woche in der
nahen Stadt zugetragen hatte. Ein
Schauer lief ihr über den Rücken. Lang-
sam kroch eine würgende Angst in ihr hoch
und ließ sie ihre Eile verdoppeln.

Die Lichter kamen nicht naher. Es war
dem jungen Mädchen, als wenn sie sich
mit jedem Schritt weiter von der Stadt
entfernen würde.

Auf einmal horchte sie auf. Es war kein
Zweifel, hinter ihr kam jemand rasch
heran.

Ruth erschrak. Einen Augenblick
stockte ihr Fuß, dann aber ging sie, so
schnell sie nur konnte. Aber hinter ihr im
Dunklen kamen nun auch die Schritte
immer näher. Ruth fühlte, wie ihr plötz-
lich das Herz bis zum Hals herauf schlug.
Sie hastete immer schneller durch die
sinkende stacht.

hinter ihr klang gleichmäßig der sie
verfolgende Schritt.

wegen armseligen drei Schillingen war
in der vorigen Woche eine alte Frau
ermordet worden. Erst Wochen später
hatte man ihre Leiche im Gebüsch gefun-
den, grausam verstümmelt, wegen gan-
zen drei Schillingen!

Ruth ging nicht mehr, — sie hetzte ge-
radezu den Berg hinunter. Trotzdem kam
der Verfolger immer näher heran.

Rurz vor der ersten Laterne in der
Gartenvorstadt stolperte Ruth und über-
knöchelte sich. Mit einem unterdrückten
Aufschrei blieb sie stehen und sah sich um.
Ein behäbiger, etwas bejahrter Mann
kam atemlos auf sie zu.

Ruth blickte ihm entschlossen entgegen.

„was wollen Sie eigentlich von min",
fragte sie mit mühsam beherrschter
Stimme. Der Dicke stotterte verlegen
herum.

„Ich; O gar nichts! Aber ich habe mich
verspätet und es ist so unheimlich in
diesem finstern Wald. Da geht man nicht
gerne allein. Aber Sie sind so schnell
gewesen, daß ich Sie beinahe verloren
hätte..."

L e o v o 11 W e ] cl e

1938 JUGEND Nr. 2 11. Januar 1938

Monatsbezugspreis RM. 1.60

Verantwortlich für die Schriftleitung: Fritz Maier
München, Kanalstraße 8, Tel. 27682 Druck: Graph
Österreich verantwortlich: Dr. Emmerich M
boten Copyright by Karl S c h i I I i n

Hartmann, München; für Anzeigen: Karl Schilling, München / Verlag: Karl Schilling- Verlag,
Kunstanstalt W. Schütz, München, Herrnstr. 8—10, Tel. 20763 Für Herausgabe und Schriftleitung in
orawa i. Fa. Morawa & Co., Wien 1, Wollzeile 11 Alle Rechte Vorbehalten Nachdruck strengstens ver-
g - Verlag, München / DA. 1. Vj. 37: 4700. Prl. Nr. 3 Manuskripte sind nur an die Schriftleitung der „TUGEND”,

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Leo v. Welden: Zeichnung ohne Titel
 
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