Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
P e r e t z

..Don Antonio ist ein Wüstling! Er hat aus seinen Bräuten bereits das zweite
Frauenbataillon für Madrid zusammengestellt. Wenn die meutern, kann er sich

gratulieren!“

eander Pauli gehörte zu jenen Jungen,
die im Grunde ihrer Seele schüchtern sind,
die aber ein lautes und auffälliges Ge-
baren an den Tag legen, um ihre innere
Zartheit zu verbergen, wenn zwei Rame-
raden sich verprügelten, so ließ sich
Leander mit dem Sieger totsicher in eine
neue Hauerei ein, obwohl ihm jede Art
von Prügelei ein Greuel war. Aber er
konnte vor sich selbst nicht bestehen, wenn
er sich nicht bewies, daß die ihm inne-
wohnende Scheu zu überwinden war.
wenn irgend ein Schulfreund eine Roh-
heit beging, so bemühte sich Leander
Pauli bestimmt, diese Rohheit zu über-
trumpfen, obwohl er jegliche Rohheit tief
verabscheute. Er wollte lieber als roh

denn als zartbesaitet gelten. Er wollte
stets durch eine ihm nicht entsprechende
Rüpelhaftigkeit sein wahres Wesen Zu-
decken. Und diesem wahren Wesen ent-
sprachen viel mehr die Traume, die er
träumte, wenn er an schulfreien Nach-
mittagen einsam und allein durch den
heimatlichen Wald schlenderte. Auch ge-
hörte zu seiner Natur, daß er — noch
nicht zwölfjährig — über Gott und Reli-
gion, über den Ursprung der Welt und
der Gestirne, über den Bau des Fimmels
und den Sinn des Lebens nachgrübelte.
Aber er schämte sich dieser seiner wahren
Natur. So kam es, daß Leander Pauli
im Rufe eines Rnaben stand, dem viel zu-
zutrauen war und nichts. Man wußte,

daß er gut sein konnte, wenn er wollte,
aber auch, daß er — nur zu oft, — nicht
wollte. Man verglich ihn mit einem
stillen Wasser, das tief gründete, oder
auch mit der Unberechenbarkeit eines
schwülen Sommertags: Die Sonne steht
am Fimmel und der Horizont ist klar.
Aber schon eine Stunde später bricht ein
Wetter aus den urplötzlich herausgezo-
genen Wolken, das niemand vorher ahnen
konnte. Rurz: Man traute Leander Pauli
nicht über den weg.

Eines Tags brachte Leanders Vater
ein paar wunderschöne, kinderkopsgroße
Blutapfelsinen mit nach Hause. Er, der
in seiner Jugend viele Entbehrungen
hatte erdulden müssen, liebte es, seinen
Rindern gelegentlich solche Freuden zu
bereiten, weil er ja am eigenen Leibe
gespürt hatte, wie der Mangel dieser
kleinen Freuden schmerzen konnte. Diese
Blutapfelsinen sollten zum Nachtisch auf-
gegessen werden. Als es aber so weit war,
stellte es sich heraus, daß eine der Blut-
apfelsinen fehlte. Der verdacht, sie weg-
genommen zu haben, fiel sogleich aus
Leander. Und das nicht so ganz ohne
Grund. Erstens war Leanders Vorliebe
für Früchte dieser Art bekannt. Zweitens
hatten sämtliche Familienmitglieder be-
obachtet, daß Leander die Blutapfelsinen,
als sie ausgepackt wurden, mit Blicken
verschlungen hatte, die nicht unähnlich
waren denen der Ratze, ehe sie nach der
Maus hascht. Und drittens galt er —
wie gesagt — als unberechenbar.

Leanders Vater war sehr gütig, aber
auch — sehr streng. Er war immer-
während bemüht, seine Rinder zu ehr-
lichen, anständigen, zuverlässigen und
beherrschten Menschen zu erziehen, weil
aber diese Eigenschaften nicht so ohne
weiteres am Baum ihrer Jugend wuchsen,
sondern weil im Gegenteil an diesem
Baume eine Menge Untugenden und Un-
arten wucherten, hielt er es für seine
Pflicht, das Amt des Gärtners mit Nach-
druck auszuüben. Das Abhandenkommen
der Blutapfelsine schloß etliche Delikte in
sich, die sein rechtlicher Sinn nicht aus
sich beruhen lassen konnte. Die Blut-
apfelsine gehörte der ganzen Familie,
infolgedessen war das unerlaubte weg-
nehmen durch ein einzelnes Familienmit-
glied Diebstahl. Das Motiv zu diesem
Diebstahl konnte nur Naschhaftigkeit sein.
Naschhaftigkeit aber gehörte in den Be-
reich jener Unbeherrschtheiten, die bei
jungen Menschen, die etwas Tüchtiges im
Leben werden sollten, ausgerottet werden
mußten. Schließlich kam noch Feigheit
und Unmännlichkeit hinzu, weil sich nie-
mand zu der Tat bekannte.

Der Vater Pauli führte seinen Sorgen
knaben Leander nach dem Essen in sein
Nebenzimmer und nahm ihn unter vier
2Lugen Ln ein strenges Verhör. Er
sicherte dem Jungen Straffreiheit zu,
wenn er wenigstens jetzt den Mut habe, zu
bekennen, Leander, der die Blutapfelsine

88
Index
G. Peretz: Zeichnung ohne Titel
Karl Gideon (Giselher) Gössele: Die Blutapfelsine
 
Annotationen