nicht weggenommen hatte, bekannte
keineswegs im Vollgefühl seiner Unschuld
und dazu gehörte unter den gegebenen
Umstanden zweifellos noch mehr Mut als
zu einem Geständnis, denn nunmehr nahm
das Verhör hochnotpeinliche Formen an,
wobei zur Entschuldigung des gestrengen
Herrn Papas zu bemerken ist, daß er —
gewitzigt durch frühere Erfahrungen —
Recht zu tun verneinte. Er legte Leander
übers Rnie, zog ihm die Hosen stramm
und brachte dessen Rückenverlangerung
mit einem gewissen Stock aus Rohr, der
wohl im Leben jedes Jungen eine schmerz-
liche Rolle spielt, in klatschende Berüh-
rung. Der Erfolg war, daß Leander
nicht nur nicht gestand, sondern auch noch
bockig wurde, was sich darin äußerte, daß
er sich stocksteif machte und nicht die
leiseste Schmerzensaufierung von sich gab.
Eine weitere hochnotpeinliche Befragung
erbrachte das gleiche Resultat. Nachdem
sich aber diese Züchtigung viermal wieder-
holt hatte und ein Ende nicht abzusehen
war, vermeinte Leander genug starken
Charakter bewiesen zu haben. Sein Ge-
hirn stellte unabhängig von seinem Ge-
fühl, das flammende Empörung war,
folgende eiskalte Überlegung an: Dein
Vater glaubt, du feist der Missetäter.
Gut, so laß ihn daran glauben, am Ende
ist ja doch nur e r der Dumme. Der Ge-
scheitere gibt nach. Und nun gestand
Leander etwas ein, was er gar nicht ver-
brochen hatte, nämlich die Blutapfelsine
weggenommen, verspeist und es aus Man-
gel an Mut nicht bekannt zu haben. Dieses
Eingeständnis hatte zur Folge, daß
Leander eine fünfte Tracht Prügel ver-
abfolgt erhielt. Und damit war für Vater-
Pauli, dem als Züchtiger jeder Streich
mit dem Rohrstock fast ebenso weh getan
hatte, wie dem Gezüchtigten, und der
traurig war, über die Schlüsse, die er in
Bezug auf die Geratenheit seines Sohnes
zu ziehen gezwungen war, die Sache aus
der Weit geschafft.
Nicht so für Leander. Obwohl er
äußerlich tat, als ob es das selbstver-
ständlichste von der Welt gewesen sei, daß
er die Blutapfelsine weggenommen hatte,
und obwohl er sich sogar damit brüstete,
fühlte er sich innerlich als Märtyrer. Er
zweifelte ernsthaft am Sieg der Gerechtig-
keit in der Welt im Allgemeinen und an
der Güte der väterlichen Erziehungs-
methoden im Besonderen. Er wurde miß-
trauisch gegen jedermann im Hause und
er hielt immer abwechselnd einen von den
Hausgenossen für den wahren Dieb. Er-
suchte stundenlang die Wohnung ab nach
Apfelsinenschalen, um so auf die Spur des
wirklichen Taters zu kommen, aber ohne
Erfolg. Er schwor dem, der ihn in dieser
Patsche hatte sitzen lassen, furchtbare
Rache. Die einzige Befriedigung in all
der Oual war ihm der Gedanke, daß sein
Vater gelegentlich sein Unrecht einsehen
und ihn um Verzeihung bitten müßte.
Und doch kam alles ganz anders, als
er es sich gedacht hatte. Der Nachmittag
rurd der Abend waren vergangen, ohne
daß er zum Ziel seiner Bemühungen ge-
kommen wäre. Im Bett vor dem Ein-
schlafen grübelte er weiter nach über das
ihm widerfahrene Unrecht, plötzlich ging
die Tür zu dem Zimmer auf, in dem er
schlief, und herein trat Iosefine, das
Dienstmädchen. Sie war ein einfaches
Madel vom Lande, das kaum richtig lesen
und schreiben konnte und das noch nicht
lange im Hause angcstellt war. Leander
war der Meinung, sie habe vergessen, die
Vorhänge zuzuziehen oder sie habe sonst
noch eine häusliche Verrichtung im Zim-
/Ä\
Oswald Malura
Hier zu erledigen. Statt dessen aber trat
Iosefine an Leanders Bett und gestand
dem Jungen heulend wie ein Schloßhund,
daß s i e es gewesen sei, die die Blutapfel-
sine weggenommen habe. Bei ihr zu
^ause im Dorf bekomme man nur selten
Blutapfelsinen und sie habe noch nie eine
solche gegessen gehabt, wenn sie gewußt
hatte, daß es auffallen würde, wenn sie
eine wegnahme, würde sie das nie getan
haben. Und wenn sie geahnt hatte, welche
Folgen ihre Handlungsweise haben würde,
dann hatte sie sich eher die Zunge abge-
bissen, als sich an der Blutapfelsine zu ver-
greifen. Sie habe an der Tür gelaust^
als Leander von seinem Vater ins
genommen worden sei. Sie habe ^ ”
nicht den Mut besessen, ins Zimme .
treten, und der schrecklichen Szene 111
Ende zu machen. Man würde sie s. .
auf der Stelle aus dem Dienst entla,
haben, wenn sie gestanden hatte, daß .
die Diebin gewesen sei. Sie hatte abe
den ganzen Tag über keine Ruhe mehr
gehabt. Und deshalb sei sie jetzt zu ihm
gekomnren. Und nun möge er, Leander,
machen, was er wolle.
Leander hatte nicht mehr überrascht
sein können, wenn der Fimmel eingestürzt
wäre. So unerwartet traf ihn Iosefines
Geständnis. Zu Anfang war er versucht
gewesen, aus dem Bett zu springen, um
seinen Vater herbeizurufen. Doch dann
unterließ er es. Noch wahrend Iosefine
sprach, spürte er, wie sein Groll sich ver-
flüchtete wie Wolken vor der Sonne. Ein
nie gekanntes heißes Mitleid mit Iosefine,
mit sich selbst und mit der ganzen Welt
nahm immer mehr und mehr von ihm
Besitz. Als Iosefine geendet hatte, wußte
er bereits nicht mehr, daß er dem, der ihn
diese Suppe hatte auslöffeln lassen,
bitterste Rache und Haßgefühle zuge-
schworen hatte. Er tröstete Iosefine so
gut er konnte, erklärte ihr, daß er sie
selbstverständlich nicht verraten würde,
und empfand sich selbst als Ritter vom
Scheitel bis zur Sohle, als er zum Schluß
bemerkte, daß die Sache ja kaum des
vielen Aufhebens wert sei. Er habe schon
so viele Prügel verdient, die er nicht
bekommen hatte, daß es auf die paar, die
er nun zufällig einmal unverdienterweise
erhalten habe, wirklich nicht ankomme.
Nachdem Iosefine unter tausend Dan-
kesbezeugungen und mit der Versicherung,
daß er ein Held sei, gegangen war, schlief
Leander glücklich und selbstzufrieden ein.
In der Nacht hatte er dann einen schönen
Traum. Er schmachtete in einem finsteren,
verließahnlichen, mittelalterlichen Turm,
plötzlich wurde es sehr hell. Eine Schar-
Engel umschwebte ihn. Sie waren schnee-
weiß gekleidet und sie hatten Blütenkranze
im Haar. Einer der Engel hatte ein Ge-
sicht, das auffällig dem von Iosefine
glich. Und dieser Engel sagte klar und
deritlich, während eine himmlische Sphären-
musik seine Worte untermalte: „Unrecht
leiden ist besser, als Unrecht tun."
89
keineswegs im Vollgefühl seiner Unschuld
und dazu gehörte unter den gegebenen
Umstanden zweifellos noch mehr Mut als
zu einem Geständnis, denn nunmehr nahm
das Verhör hochnotpeinliche Formen an,
wobei zur Entschuldigung des gestrengen
Herrn Papas zu bemerken ist, daß er —
gewitzigt durch frühere Erfahrungen —
Recht zu tun verneinte. Er legte Leander
übers Rnie, zog ihm die Hosen stramm
und brachte dessen Rückenverlangerung
mit einem gewissen Stock aus Rohr, der
wohl im Leben jedes Jungen eine schmerz-
liche Rolle spielt, in klatschende Berüh-
rung. Der Erfolg war, daß Leander
nicht nur nicht gestand, sondern auch noch
bockig wurde, was sich darin äußerte, daß
er sich stocksteif machte und nicht die
leiseste Schmerzensaufierung von sich gab.
Eine weitere hochnotpeinliche Befragung
erbrachte das gleiche Resultat. Nachdem
sich aber diese Züchtigung viermal wieder-
holt hatte und ein Ende nicht abzusehen
war, vermeinte Leander genug starken
Charakter bewiesen zu haben. Sein Ge-
hirn stellte unabhängig von seinem Ge-
fühl, das flammende Empörung war,
folgende eiskalte Überlegung an: Dein
Vater glaubt, du feist der Missetäter.
Gut, so laß ihn daran glauben, am Ende
ist ja doch nur e r der Dumme. Der Ge-
scheitere gibt nach. Und nun gestand
Leander etwas ein, was er gar nicht ver-
brochen hatte, nämlich die Blutapfelsine
weggenommen, verspeist und es aus Man-
gel an Mut nicht bekannt zu haben. Dieses
Eingeständnis hatte zur Folge, daß
Leander eine fünfte Tracht Prügel ver-
abfolgt erhielt. Und damit war für Vater-
Pauli, dem als Züchtiger jeder Streich
mit dem Rohrstock fast ebenso weh getan
hatte, wie dem Gezüchtigten, und der
traurig war, über die Schlüsse, die er in
Bezug auf die Geratenheit seines Sohnes
zu ziehen gezwungen war, die Sache aus
der Weit geschafft.
Nicht so für Leander. Obwohl er
äußerlich tat, als ob es das selbstver-
ständlichste von der Welt gewesen sei, daß
er die Blutapfelsine weggenommen hatte,
und obwohl er sich sogar damit brüstete,
fühlte er sich innerlich als Märtyrer. Er
zweifelte ernsthaft am Sieg der Gerechtig-
keit in der Welt im Allgemeinen und an
der Güte der väterlichen Erziehungs-
methoden im Besonderen. Er wurde miß-
trauisch gegen jedermann im Hause und
er hielt immer abwechselnd einen von den
Hausgenossen für den wahren Dieb. Er-
suchte stundenlang die Wohnung ab nach
Apfelsinenschalen, um so auf die Spur des
wirklichen Taters zu kommen, aber ohne
Erfolg. Er schwor dem, der ihn in dieser
Patsche hatte sitzen lassen, furchtbare
Rache. Die einzige Befriedigung in all
der Oual war ihm der Gedanke, daß sein
Vater gelegentlich sein Unrecht einsehen
und ihn um Verzeihung bitten müßte.
Und doch kam alles ganz anders, als
er es sich gedacht hatte. Der Nachmittag
rurd der Abend waren vergangen, ohne
daß er zum Ziel seiner Bemühungen ge-
kommen wäre. Im Bett vor dem Ein-
schlafen grübelte er weiter nach über das
ihm widerfahrene Unrecht, plötzlich ging
die Tür zu dem Zimmer auf, in dem er
schlief, und herein trat Iosefine, das
Dienstmädchen. Sie war ein einfaches
Madel vom Lande, das kaum richtig lesen
und schreiben konnte und das noch nicht
lange im Hause angcstellt war. Leander
war der Meinung, sie habe vergessen, die
Vorhänge zuzuziehen oder sie habe sonst
noch eine häusliche Verrichtung im Zim-
/Ä\
Oswald Malura
Hier zu erledigen. Statt dessen aber trat
Iosefine an Leanders Bett und gestand
dem Jungen heulend wie ein Schloßhund,
daß s i e es gewesen sei, die die Blutapfel-
sine weggenommen habe. Bei ihr zu
^ause im Dorf bekomme man nur selten
Blutapfelsinen und sie habe noch nie eine
solche gegessen gehabt, wenn sie gewußt
hatte, daß es auffallen würde, wenn sie
eine wegnahme, würde sie das nie getan
haben. Und wenn sie geahnt hatte, welche
Folgen ihre Handlungsweise haben würde,
dann hatte sie sich eher die Zunge abge-
bissen, als sich an der Blutapfelsine zu ver-
greifen. Sie habe an der Tür gelaust^
als Leander von seinem Vater ins
genommen worden sei. Sie habe ^ ”
nicht den Mut besessen, ins Zimme .
treten, und der schrecklichen Szene 111
Ende zu machen. Man würde sie s. .
auf der Stelle aus dem Dienst entla,
haben, wenn sie gestanden hatte, daß .
die Diebin gewesen sei. Sie hatte abe
den ganzen Tag über keine Ruhe mehr
gehabt. Und deshalb sei sie jetzt zu ihm
gekomnren. Und nun möge er, Leander,
machen, was er wolle.
Leander hatte nicht mehr überrascht
sein können, wenn der Fimmel eingestürzt
wäre. So unerwartet traf ihn Iosefines
Geständnis. Zu Anfang war er versucht
gewesen, aus dem Bett zu springen, um
seinen Vater herbeizurufen. Doch dann
unterließ er es. Noch wahrend Iosefine
sprach, spürte er, wie sein Groll sich ver-
flüchtete wie Wolken vor der Sonne. Ein
nie gekanntes heißes Mitleid mit Iosefine,
mit sich selbst und mit der ganzen Welt
nahm immer mehr und mehr von ihm
Besitz. Als Iosefine geendet hatte, wußte
er bereits nicht mehr, daß er dem, der ihn
diese Suppe hatte auslöffeln lassen,
bitterste Rache und Haßgefühle zuge-
schworen hatte. Er tröstete Iosefine so
gut er konnte, erklärte ihr, daß er sie
selbstverständlich nicht verraten würde,
und empfand sich selbst als Ritter vom
Scheitel bis zur Sohle, als er zum Schluß
bemerkte, daß die Sache ja kaum des
vielen Aufhebens wert sei. Er habe schon
so viele Prügel verdient, die er nicht
bekommen hatte, daß es auf die paar, die
er nun zufällig einmal unverdienterweise
erhalten habe, wirklich nicht ankomme.
Nachdem Iosefine unter tausend Dan-
kesbezeugungen und mit der Versicherung,
daß er ein Held sei, gegangen war, schlief
Leander glücklich und selbstzufrieden ein.
In der Nacht hatte er dann einen schönen
Traum. Er schmachtete in einem finsteren,
verließahnlichen, mittelalterlichen Turm,
plötzlich wurde es sehr hell. Eine Schar-
Engel umschwebte ihn. Sie waren schnee-
weiß gekleidet und sie hatten Blütenkranze
im Haar. Einer der Engel hatte ein Ge-
sicht, das auffällig dem von Iosefine
glich. Und dieser Engel sagte klar und
deritlich, während eine himmlische Sphären-
musik seine Worte untermalte: „Unrecht
leiden ist besser, als Unrecht tun."
89