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Gedanken der Menschen gefangen, daß sie ihr Einzelschicksal über dem
Ringen der Völker vergaßen.

So lebte sie zwischen den Zeiten.

Als die Jugend verging, der Sommer des Lebens kam, fing sie

an, die Sehnsucht, die einst ihr eigenes Herz bewegt hatte, in ihre

Kinder hineinzulegen.

*

„Warum diese Erzählung heute abend?", dachte Barbara, als sie
allein auf ihrem Zimmer war und Florians Brief noch einmal
hervorholte. Schatten der Vergangenheit, von denen sie bislang nichts
wußte! So viele hatte also ein Anrecht darauf, daß man bei allem
Tun und Lasten Rücksicht nahm! Jeder lebte sein eigenes Leben, so
gänzlich verschieden von dem des anderen und unter ganz anderen

Umständen. Merkwürdig — und doch sind wir durch geheime Bin-

dungen mit unseren Angehörigen und unseren Vorfahren verkettet.
Wie die Eltern und Ahnen uns äußere Ähnlichkeit geben, so vererben
sie uns auch ihre Sehnsüchte, ihre Neigungen, ihre Sünden, ihre
Reue und ihre Läuterung.

Eigentümlich schien es Barbara auch, daß vor vierzig Jahren ihre
Großmutter mit jenem Fremden eine Reise, wahrscheinlich die einzige
in ihrem Leben, in die bayerischen Berge gemacht hatte und sie in
München Aufenthalt hatten. Das war eine von den wenigen Tat-
sachen, die ihre Mutter ihnen übermitteln konnte. Ob die beiden dort
glückliche Zeiten verbracht hatten? Ob es eine Liebe gewesen war?
Barbara hatte es immer als seltsam empfunden, daß sie sich in Mün-
chen von Anfang an so heimisch gefühlt hatte, daß ihr alles so ver-
traut erschienen war, als sie zum ersten Mal durch die Straßen fuhr.
War die Liebe zu dieser Stadt vererbt? — Sonderbar fromm war
ihr dort zumute. Es war, als ob München ihre besten Gefühle und
Empfindungen wachrief; wenn sie in seinen Mauern weilte, füllte ihre
Seele sich mit Andacht und war der Schönheit weit geöffnet.

Einen Makel auslöschen, nicht ihn verschlimmern, das hatte ihre
Mutter wohl gemeint!

Florians Brief kam aus Leopoldingen, einem Ort in der Nähe seines
Heimatdorfes. Jetzt arbeitete er auf dem Landsitz des Kommerzienrats
Westhagen von den HennieS-Werken. Auf einem Morgenritt durch den
Wald war er Westhagen begegnet, und sie waren ins Gespräch ge-
kommen. Florian hatte sich schon als Kind ^ür das alte Herrenhaus
intereffiert, das einst dem Fürsten von S. . . als Sommersitz gedient
hatte, und Westbagen lud ihn ein, sich das Innere des Hauses anzu-

-

Selbstbild nis Henrik Moor

sehen. Die Türbekrönungen in der Halle wären arg vom Zahn der
Zeit angegriffen, ebenso bedürfte die eine oder andere der Heldengestalten
auf dem Dachgarten einer fachmännischen Ausbesserung; ob Florian
nicht ein paar Wochen sein Gast sein wollte? Florian nahm an. Fast
die ganze Ferienzeit lag noch vor ihm.

Ein kleines Juwel süddeutschen Barocks war der schöne Bau,
dessen Vorderfront durch hohe Fenster und Arkaden unterbrochen
wurde. Durch den Park, in dem Baumgruppen mit Wiesen Wechsel,
ten, gingen sie auf die breite Freitreppe zu. Im Innern gelangte man
nicht gleich in ein Treppenhaus, sondern in eine weite Halle. Von
hier aus führten vier gewaltige Flügeltüren und mehrere schmale
Durchgänge in die hinteren Räume und zu den Aufgängen. Die
Portale trugen bemerkenswerte Bekrönungen, die den Saal festlich
belebten. Die fast lebensgroßen Figuren stellten die vier Stufen des
menschlichen Daseins dar.

Florians Erholungszeit sollte nicht von langer Dauer sein. Dafür
sorgte schon sein hitziges Temperament.

Der August ging zu Ende. An einem heißen Tage arbeitete
Florian auf dem Balkon, der auf der Säulenhalle deü Seitenflügels
ruht. Ein beträchtlicher Teil der mythologischen Götterwelt Griechen-
lands war hier versammelt; aber er hatte es gewagt, vor diesen
erhabenen Gestalten in der Badehose zu erscheinen.

Der warme Schein der Sonne, die gute Landluft, die Schönheit
der Umgebung und nicht zuletzt die Freude an der Arbeit versetzten ihn
in die heiterste Laune, die er sich selbst durch die Anordnungen der
„Frau Kommerzienrat" nicht verderben ließ, denen zufolge er seine
Mahlzeiten am Tisch des Personals einnehmen mußte.

Aber nach einigen Tagen fand sie ihn originell und witzig und
wellte auch heute noch vor der Besuchszeit ein paar Worte mit ihm
wechseln. Sie trug ein nach der damaligen Mode recht kurzes, aber
kostbares Seidenkleid, und um die Schulter lag — ungeachtet der
Hitze der Nachmittagsstunden — ein breiter, heller Pelz. Lächelnd
öffnete sie die schmale Tür, die zum Dachgarten führte, prallte aber
entsetzt zurück:

„Ja, mein Herr, — in meinem Haus — ?", sie verfärbte sich beim
Anblick des Licht, Luft und Sonne badenden Florian und suchte Halt
an der Säule mit dem Herkules. „Meine Gäste werden gleich Vor-
fahren, in wenigen Minuten sind sie da", murmelte sie, sobald sie
weiterer Worte fähig war, fast bittend und beschwörend.

Verächtlich blickte Florian von der Leiter auf sie herab: „Warum
kommen Sie denn hier herauf?"

Jetzt hob sie ihr Lorgnon, als wolle sie sich überzeugen, ob es
Wirklichkeit oder ein Traum war, der sie da narrte, und machte einen
Schritt auf ihn zu:

„Habe ich Sie herbestellt?", fuhr Florian ärgerlich fort, dem die
Sache anfing, zu bunt zu werden. „Überhaupt lege ich während
meiner Arbeit keinen Wert auf Damenbesuch. Und wenn ich arbeite,
geh ich umher, wie ich will, verstehen Sie? Hier ist mein Arbeitsplatz
und kein Salon! Und wen's geniert, mich so zu sehen, wie ich hier
bin, der mag ruhig wegbleiben."

„Unverschämter Kerl!", zischte sie deutlich vernehmbar.

Nach Feierabend saß Florian über einem Reliefentwurf auf seinem
Zimmer, als Westhagen unbefangen bei ihm eintrat und ihm die
Hand bot:

„Darf man schauen?"

„Sie bat es vorgezogen zu schweigen", dachte Florian mit einem
Blick in den Park, wo Frau Westhagen mit ihren Freundinnen nock
beim Tee saß.

„Nordische Gestalten — einzig dastehend! Nordisch-germanisch!
Wenn man erst vom Rassestandpunkt aus Kunstkritik betreiben wird,
sind Sie der gemachte Mann, Seidl!"

„Auf Stiernacken und Negerlippen habe ich gewiß keinen Appetit!"

„Recht so! Das fremde Geistesgut darf bei uns nicht allzusehr
liberhandnehmen. Der alte Geist muß wieder auferstehen! Darauf
könnten wir eigentlich ein Glaö zusammen trinken, wie? Leisten Sie
mir drüben ein bißchen Gesellschaft! Bei den Damen bin ich jetzt
dock überflüssig, und zum Arbeiten hat man bei der Hitze keine Lust."

(Fortsetzung folgt.)

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Henrik Moor: Selbstbildnis
 
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