MORGENMOND
EIN MÜNCHENER KÜNSTLER-ROMAN VON JOHANNA BIRNBAUM
Bisheriger Inhalt: Barbara Bürkner, Studentin der Philo-
logie, fährt der Stadt ihrer Studien und ihrer Sehnsucht, München,
entgegen. Dort hat sie bald Freundschaft geschlossen mit dem Bildhauer
Florian Seidl, einem Kunstfanatiker, der dem Glaspalasttreiben des
Jahres 1927 recht unfreundlich gegenübersteht. Nach vielerlei Erleb-
nissen mit ihm fühlt sie sich einsam und fremd. Barbara befindet sich
zu Stndienzwecken in London.
ii. Fortsetzung.
Eö war ein Abend, an dem sie ihm alles vergab.
Waterloo- Station stieg sie erst ein.
Sonst waren ihr oft Gedanken gekommen, was dieser oder jener
Mensch wohl für ein Schicksal haben mochte, der ihr in der Unter-
grundbahn gegenübersasi, der einmal flüchtig vor ihren Augen auf-
tauchte, um dann wieder im Schlund der Millionenstadt zu verschwin-
den. Jeden Tag waren es andere Gesichter, in denen sie zu lesen
suchte. Heute bedachte sie nur ihr eigenes Leben: ihre seltsame
Kettung an den süddeutschen Bauernsohn.
Der Abend verlief wie gewöhnlich. Nach dem Esten las sie fast
jeden Tag der alten Dame, bei der sie wohnte, aus Thackeray vor,
wobei diese ihre Aussprache korrigierte. Dann stellten die jungen
Leute das Radio an: es kam deutsche Musik.
Halb im Traum siieg sie gegen Mitternacht hinauf auf ihr Zimmer
und widerstand der Versuchung nicht langer, nach München zu schreiben:
„Lieber Florian,
seit Monaten bin ich hier in London und arbeite im Britischen
Museum an meiner Dissertation. Ich habe Heimweh nach
München und — nach Dir. Gern würde ich hören, wie eS Dir
geht und was Deine Kunst macht. Deine Barbara."
Liebte sie denn Florian wirklich noch? Zur Liebe gehörte doch Ver-
trauen, und das hatte sie verloren!
Auf eine Beantwortung ihrer Zeilen brauchte sie diesmal nicht
lange zu warten. Schon das Wochenende brachte einen Brief aus
München.
Ihr Herz schlug schneller, alö sie die Schrift sah; mit zitternder
Hand nahm sie ihn vom Flurtisch und ging auf ihr Zimmer. Es
war Sonnabend nachmittag, die Bibliothek geschlossen; sie arbeitete
daheim. Schon war es herbstlich kühl, und zum ersten Mal brannte
ein kleines Feuer im Kamin. Auf dem Sims standen die Photo-
graphien ihrer Eltern und ihrer Schwester. Barbara hatte hier ein
schönes Stübchen. Daö breite helle Rohrbett war bequem und
gemütlich. Die mattgrüne Tapete schimmerte seidig. Ein zierlicher
Schreibtisch stand vor dem breiten Fenster, durch das der Blick aus
die kleine Gartenwiese fiel. Beerensträucher, bunte Astern leuchteten
am Rand. Auf der roten Steinmauer spazierte der schwarze Kater
aus dem Nachbarhaus. Alles daö schien ihr behaglich. Aber alö sie
den Brief auseinanderfaltete und zu lesen begann, legte sich eine
eisige Hand auf ihr Herz. Gefühllos und kühl waren die Worte.
Sie war Florian ja längst entrückt. Eine Episode war sie für ihn
gewesen, wie sie es von Anfang an befürchtet hatte. Sie schämte sich,
ihrer Sehnsucht nachgegeben zu haben. Wußte sie nicht schon lange,
daß er nicht treu sein konnte? Mußte er ihr das erst selbst sagen?
Was stand da?
„Barbara, Du mußt mich vergessen! Für Dich bin ich nicht
mehr. Alles ist vorbei. Unsere Liebe war nicht gesund; für
keinen von uns beiden. Du wirst andere Menschen kennenlernen,
andere Eindrücke in Dich aufnehmen. Glaube mir, das ist Balsam
für Deine Seele! Ich habe schlecht an Dir gehandelt, daö weiß
ich. Aber ich kann und will mich nicht ändern; obwohl mir oft
vor meinem eigenen Ich graut. Es ist, alö ob eine fremde Kraft
mich treibt und mir den Weg vorschreibt. Ein schwimmendes
Etwas bin ich, das sich überall da festhält, wo es ihm gerade
am besten gefällt.
Daß Du an mich geraten mußtest, Barbara! -
Einst warst Du mir alles, ein reiches, volles Leben war der
Sommer mit Dir. Leb wohl!
Florian Seidl."
*
An einem regnerischen Septembermorgen packte Barbara ihre
Koffer. Das Arbeiten im Lesesaal, in dem sie den größten Teil deö
Tages zugebracht hatte, die dumpfe Luft der Untergrundbahn, das
Benzingas der Autos, der Lärm der Weltstadt hatten sie müde und
blaß gemacht.
Abgespannt kam sie am späten Nachmittag in Southampton an.
Der berühmte alte Torbogen, ein seltsamer Traum in der kurzen
Nacht, in dem sie ohne irdische Schwere über eine schöne Landschaft
schwebte, blieben die einzigen angenehmen Erinnerungen an die laute
Hafenstadt. Tavernen, fluchende Matrosen, kreischende Weiber, grell-
bunte Läden auf grauem, düsterem Hintergrund prägten sich ihr ein.
Lange irrte Barbara umher und suchte vergeblich nach Unterkunft für
die Nacht. Ihre Wirtin hatte ihr ein paar empfehlende Zeilen an
eine Schulfreundin mitgegeben, die Leiterin des christlichen Hospizes
war. Das Haus lag so ziemlich an der Peripherie der Stadt. Den-
noch machte sie sich auf den Weg. Aber auch dort fand sie keine
Bleibe. Unschlüssig und ängstlich wanderte sie den weiten Weg wieder
zurück.
Noch immer lag ein feiner Sprühregen in der Luft. Schnell brach
die Dunkelheit herein. Es schlug bereits neun, als sie in ein kleines
Hotel in der Nähe vom Bahnhof flüchtete, wo sie allerdings vorher
schon nach einem Zimmer gefragt hatte. Sie bestellte ein belegtes
Brot und Tee. Der Sohn des Hauses, der ebenfalls an einem der
wenigen Tische zu Abend aß, entnahm aus ihren Erkundigungen über
die Abfahrt des Tenders, daß sie Deutsche war. Er nahm sich ihrer an
und erzählte ihr, daß er in Heidelberg studiert habe und auch Hanno-
ver kenne. Schließlich stellte er ihr sein Arbeitszimmer als Unter-
kunft zur Verfügung. Zwischen Schreibtisch und Bücherschrank
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EIN MÜNCHENER KÜNSTLER-ROMAN VON JOHANNA BIRNBAUM
Bisheriger Inhalt: Barbara Bürkner, Studentin der Philo-
logie, fährt der Stadt ihrer Studien und ihrer Sehnsucht, München,
entgegen. Dort hat sie bald Freundschaft geschlossen mit dem Bildhauer
Florian Seidl, einem Kunstfanatiker, der dem Glaspalasttreiben des
Jahres 1927 recht unfreundlich gegenübersteht. Nach vielerlei Erleb-
nissen mit ihm fühlt sie sich einsam und fremd. Barbara befindet sich
zu Stndienzwecken in London.
ii. Fortsetzung.
Eö war ein Abend, an dem sie ihm alles vergab.
Waterloo- Station stieg sie erst ein.
Sonst waren ihr oft Gedanken gekommen, was dieser oder jener
Mensch wohl für ein Schicksal haben mochte, der ihr in der Unter-
grundbahn gegenübersasi, der einmal flüchtig vor ihren Augen auf-
tauchte, um dann wieder im Schlund der Millionenstadt zu verschwin-
den. Jeden Tag waren es andere Gesichter, in denen sie zu lesen
suchte. Heute bedachte sie nur ihr eigenes Leben: ihre seltsame
Kettung an den süddeutschen Bauernsohn.
Der Abend verlief wie gewöhnlich. Nach dem Esten las sie fast
jeden Tag der alten Dame, bei der sie wohnte, aus Thackeray vor,
wobei diese ihre Aussprache korrigierte. Dann stellten die jungen
Leute das Radio an: es kam deutsche Musik.
Halb im Traum siieg sie gegen Mitternacht hinauf auf ihr Zimmer
und widerstand der Versuchung nicht langer, nach München zu schreiben:
„Lieber Florian,
seit Monaten bin ich hier in London und arbeite im Britischen
Museum an meiner Dissertation. Ich habe Heimweh nach
München und — nach Dir. Gern würde ich hören, wie eS Dir
geht und was Deine Kunst macht. Deine Barbara."
Liebte sie denn Florian wirklich noch? Zur Liebe gehörte doch Ver-
trauen, und das hatte sie verloren!
Auf eine Beantwortung ihrer Zeilen brauchte sie diesmal nicht
lange zu warten. Schon das Wochenende brachte einen Brief aus
München.
Ihr Herz schlug schneller, alö sie die Schrift sah; mit zitternder
Hand nahm sie ihn vom Flurtisch und ging auf ihr Zimmer. Es
war Sonnabend nachmittag, die Bibliothek geschlossen; sie arbeitete
daheim. Schon war es herbstlich kühl, und zum ersten Mal brannte
ein kleines Feuer im Kamin. Auf dem Sims standen die Photo-
graphien ihrer Eltern und ihrer Schwester. Barbara hatte hier ein
schönes Stübchen. Daö breite helle Rohrbett war bequem und
gemütlich. Die mattgrüne Tapete schimmerte seidig. Ein zierlicher
Schreibtisch stand vor dem breiten Fenster, durch das der Blick aus
die kleine Gartenwiese fiel. Beerensträucher, bunte Astern leuchteten
am Rand. Auf der roten Steinmauer spazierte der schwarze Kater
aus dem Nachbarhaus. Alles daö schien ihr behaglich. Aber alö sie
den Brief auseinanderfaltete und zu lesen begann, legte sich eine
eisige Hand auf ihr Herz. Gefühllos und kühl waren die Worte.
Sie war Florian ja längst entrückt. Eine Episode war sie für ihn
gewesen, wie sie es von Anfang an befürchtet hatte. Sie schämte sich,
ihrer Sehnsucht nachgegeben zu haben. Wußte sie nicht schon lange,
daß er nicht treu sein konnte? Mußte er ihr das erst selbst sagen?
Was stand da?
„Barbara, Du mußt mich vergessen! Für Dich bin ich nicht
mehr. Alles ist vorbei. Unsere Liebe war nicht gesund; für
keinen von uns beiden. Du wirst andere Menschen kennenlernen,
andere Eindrücke in Dich aufnehmen. Glaube mir, das ist Balsam
für Deine Seele! Ich habe schlecht an Dir gehandelt, daö weiß
ich. Aber ich kann und will mich nicht ändern; obwohl mir oft
vor meinem eigenen Ich graut. Es ist, alö ob eine fremde Kraft
mich treibt und mir den Weg vorschreibt. Ein schwimmendes
Etwas bin ich, das sich überall da festhält, wo es ihm gerade
am besten gefällt.
Daß Du an mich geraten mußtest, Barbara! -
Einst warst Du mir alles, ein reiches, volles Leben war der
Sommer mit Dir. Leb wohl!
Florian Seidl."
*
An einem regnerischen Septembermorgen packte Barbara ihre
Koffer. Das Arbeiten im Lesesaal, in dem sie den größten Teil deö
Tages zugebracht hatte, die dumpfe Luft der Untergrundbahn, das
Benzingas der Autos, der Lärm der Weltstadt hatten sie müde und
blaß gemacht.
Abgespannt kam sie am späten Nachmittag in Southampton an.
Der berühmte alte Torbogen, ein seltsamer Traum in der kurzen
Nacht, in dem sie ohne irdische Schwere über eine schöne Landschaft
schwebte, blieben die einzigen angenehmen Erinnerungen an die laute
Hafenstadt. Tavernen, fluchende Matrosen, kreischende Weiber, grell-
bunte Läden auf grauem, düsterem Hintergrund prägten sich ihr ein.
Lange irrte Barbara umher und suchte vergeblich nach Unterkunft für
die Nacht. Ihre Wirtin hatte ihr ein paar empfehlende Zeilen an
eine Schulfreundin mitgegeben, die Leiterin des christlichen Hospizes
war. Das Haus lag so ziemlich an der Peripherie der Stadt. Den-
noch machte sie sich auf den Weg. Aber auch dort fand sie keine
Bleibe. Unschlüssig und ängstlich wanderte sie den weiten Weg wieder
zurück.
Noch immer lag ein feiner Sprühregen in der Luft. Schnell brach
die Dunkelheit herein. Es schlug bereits neun, als sie in ein kleines
Hotel in der Nähe vom Bahnhof flüchtete, wo sie allerdings vorher
schon nach einem Zimmer gefragt hatte. Sie bestellte ein belegtes
Brot und Tee. Der Sohn des Hauses, der ebenfalls an einem der
wenigen Tische zu Abend aß, entnahm aus ihren Erkundigungen über
die Abfahrt des Tenders, daß sie Deutsche war. Er nahm sich ihrer an
und erzählte ihr, daß er in Heidelberg studiert habe und auch Hanno-
ver kenne. Schließlich stellte er ihr sein Arbeitszimmer als Unter-
kunft zur Verfügung. Zwischen Schreibtisch und Bücherschrank
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