Eine Weihnachtsgeschichte von Gert Lynch
m 24. Dezember nachmittags gegen
fünf Uhr stieg aus der Polsterklasse des
Schnellzuges ein vornehmer Herr. Das
Haar an den Schlafen hatte schon einen
silbrigen Schimmer, aber der federnde
Schritt und das frische Gesicht zeigten einen
Mann in den besten Jahren. Er hatte die
Hände in den Manteltaschen und unter dem
Arm einen Geigenkasten, den eine graue
Hülle umschloß. Er gab dem Gepäckträger
einen Auftrag, spähte eifrig umher, und
ging dann als Letzter durch die Sperre.
Hier wartete er noch ein Weilchen, und da
niemand kam, zuckte er die Schultern und
verließ den Bahnsteig.
Sein Gepäck war bereits in dem hohen
rotbraunen Hotelwagen untergebracht. Der
Wagenführer nahm höflich die Mütze ab
und riß den Schlag auf. Der Gast aber
winkte ab. Er hatte Verlangen nach frischer
Lust und war gewillt, den weg zu Fuß zu
gehen. Den Geigenkasten, nach dem der
Diener die Hand ausstreckte, behielt er
bei sich.
Es ging in den heiligen Abend hinein.
Der öffentliche Lhristbaum vorm Bahnhof
strahlte mit seinen elektrischen Rerzen. An
den Leitungsdrahten hing dicker Rauhreif,
und die Barte der Männer sahen aus wie
gepudert. Die ersten Laden wurden ge-
schloffen, und die letzten Fichten von Stra-
ßenhandlern seilgeboten. Alle Leute hatten
es eilig, nach Hause zu kommen.
Der Fremde schlenderte die Straße ent-
lang und war enttäuscht, daß er nicht ab-
geholt worden war. Mit Unlust dachte er
an die unpersönliche Weihnachtsfeier, die
im Hotel bevorstand. Er hatte sich den
Christabend mit der Jugendfreundin so
schön ausgemalt, und nun war doch nichts
daraus geworden. „Sollte ich wider Er-
warten nicht an der Bahn sein", hatte sie
geschrieben, „dann bin ich unabkömmlich."
Er blieb stehen und überlegte, ob er
einen seiner Bekannten, die er in dieser
Stadt hatte, anrufen sollte. Vielleicht den
alten Akademieproseffor Meiselr Nein,
den Meisel lieber nicht, der hatte Familie,
und da gekört ein Außenstehender an sol-
chem 2Lbend nicht hinein. 2lber der Dings-
da, wie hieß er nur gleich, der Leiter der
Staatsoper, der war Junggeselle und
würde sich vielleicht sogar freuen.—
Da wurde er plötzlich von hinten hart
angefaßt und so heftig zurückgeriffen, daß
der Geigenkasten rutschte und in einen
Schneehaufen fiel. Im selben Augenblick
kreischten wiehernd die Bremsen eines
Rraftwagens auf. Eine Faust drohte zum
Schlagfenster heraus, und eine wütende
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m 24. Dezember nachmittags gegen
fünf Uhr stieg aus der Polsterklasse des
Schnellzuges ein vornehmer Herr. Das
Haar an den Schlafen hatte schon einen
silbrigen Schimmer, aber der federnde
Schritt und das frische Gesicht zeigten einen
Mann in den besten Jahren. Er hatte die
Hände in den Manteltaschen und unter dem
Arm einen Geigenkasten, den eine graue
Hülle umschloß. Er gab dem Gepäckträger
einen Auftrag, spähte eifrig umher, und
ging dann als Letzter durch die Sperre.
Hier wartete er noch ein Weilchen, und da
niemand kam, zuckte er die Schultern und
verließ den Bahnsteig.
Sein Gepäck war bereits in dem hohen
rotbraunen Hotelwagen untergebracht. Der
Wagenführer nahm höflich die Mütze ab
und riß den Schlag auf. Der Gast aber
winkte ab. Er hatte Verlangen nach frischer
Lust und war gewillt, den weg zu Fuß zu
gehen. Den Geigenkasten, nach dem der
Diener die Hand ausstreckte, behielt er
bei sich.
Es ging in den heiligen Abend hinein.
Der öffentliche Lhristbaum vorm Bahnhof
strahlte mit seinen elektrischen Rerzen. An
den Leitungsdrahten hing dicker Rauhreif,
und die Barte der Männer sahen aus wie
gepudert. Die ersten Laden wurden ge-
schloffen, und die letzten Fichten von Stra-
ßenhandlern seilgeboten. Alle Leute hatten
es eilig, nach Hause zu kommen.
Der Fremde schlenderte die Straße ent-
lang und war enttäuscht, daß er nicht ab-
geholt worden war. Mit Unlust dachte er
an die unpersönliche Weihnachtsfeier, die
im Hotel bevorstand. Er hatte sich den
Christabend mit der Jugendfreundin so
schön ausgemalt, und nun war doch nichts
daraus geworden. „Sollte ich wider Er-
warten nicht an der Bahn sein", hatte sie
geschrieben, „dann bin ich unabkömmlich."
Er blieb stehen und überlegte, ob er
einen seiner Bekannten, die er in dieser
Stadt hatte, anrufen sollte. Vielleicht den
alten Akademieproseffor Meiselr Nein,
den Meisel lieber nicht, der hatte Familie,
und da gekört ein Außenstehender an sol-
chem 2Lbend nicht hinein. 2lber der Dings-
da, wie hieß er nur gleich, der Leiter der
Staatsoper, der war Junggeselle und
würde sich vielleicht sogar freuen.—
Da wurde er plötzlich von hinten hart
angefaßt und so heftig zurückgeriffen, daß
der Geigenkasten rutschte und in einen
Schneehaufen fiel. Im selben Augenblick
kreischten wiehernd die Bremsen eines
Rraftwagens auf. Eine Faust drohte zum
Schlagfenster heraus, und eine wütende
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