Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Spur im Winterwald

Das Erlebnis eines einsamen Skilausers
Von Christa Regner

^ iefverschneit lag das bergumschlossene
Hochtal da. Trotz mittäglicher Stunde
hingen noch dichte Nebelschleier bis zum
Boden herab. Rein Lüftchen regte sich,
kein Sonnenstrahl kam, um diesen farb-
losen, düsteren Schleier zu zerreißen. Und
doch war es Winter draußen, herrlicher
deutscher Winter!

Durch das schweigende Grau des Tages
schritt ein einsamer Wanderer. Mit ge-
schulterten Skiern kam er langsam die
Bergstraße herauf. Er war einer von
denen, die so gerne der Ratlosigkeit der
Welt entfliehen, um in der erhabenen
Stille der Berge Gottes Nahe zu spüren.
Ein bewaldeter Bergrücken nahm ihn auf.
Rechts und links standen die verschneiten
Fichten und streckten ihm gleich silbernen
Armen ihre Zweige entgegen. Da schnallte
er die Skier an. Nur das Herz eines
Skifahrers kann es erfassen, was es
wunderbares ist um solch einsame Fahrt,
was es Röstliches ist, die erste Spur zu
ziehen.

Die erste Spur; Wohl war keine Ski-
spur zu sehen, aber etwas weiter links
lief eine wildfahrte. Der Blick eines Ski-
fahrers ist an derlei gewöhnt, aber was
das wesentliche an dieser Spur war: sie
verschwand, um immer wieder aufs neue
aufzutauchen. Sie begleitete ihn förmlich,
plötzlich zeigten sich vereinzelte Bluts-
tropfen in dieser Fährte, was mochte sich
wohl ereignet Habens

Eine innere Stimme befahl ihm, dieser
seltsamen Spur zu folgen. Bergauf, berg-
ab ging sie. Vielleicht, dachte er bei sich,

finde ich ein verwundetes Tier, dem noch
zu helfen wäre... oder machte er sich
lächerlich, wenn —

Er überlegte und kam zu dem Resultat,
daß es töricht, sentimental sei, einer wild-
spur nachzulaufen, und überdies: da drü-
ben, höchstens eine halbe Stunde von ihm
entfernt, lockte und winkte ein herrlicher
Steilhang. Begeisterung erfüllte ihn, ließ
ihn alles vergessen. Auch die wildspur.
Zwei Brettl, a gführiger Schnee! Er
jauchzte es hinaus in die weiße Welt
ringsum.

Er beschleunigte sein Tempo, welch
eine Lust, hier oben in der sonnigen Helle
zu wandern, wahrend unten im Tal noch
immer eine undurchdringliche Nebeldecke
lag. Und trotzdem: so froh wie sonst
konnte er heute nicht werden. Irgend
etwas unbewußt hemmendes lag in seinen
Gliedern. Schnee blieb an den Skiern
hangen und hinderte sein Gleiten. Dazu
das seltsame Flimmern in den Augen,
was sollte das auf einmal;... Ärgerlich
fuhr er sich übers heiße Gesicht. Da —
war es ihm nicht eben gewesen, als stünde
vorne an der wegbiegung ein schatten-
haftes unförmiges Wesen, das die Hände
nach ihm ausstreckte ...;

Angst kroch in ihm empor. Und wie er
langsam um sich blickte, als sehne er in
dieser merkwürdigen Stunde einen Men-
schen herbei, da lief hart neben seinem
Fuß die rote S p u r. wieder war sie
neben ihm, ein stummer und beinahe un-
heimlicher Begleiter. Seine Phantasie
begann zu arbeiten. Ein Bild aus den
Tagen seiner Rindheit stieg in ihm auf:
wie er als kleiner Junge im Bayerischen
Wald ein gefangenes Häslein aus einer
Fuchsfalle befreit hatte. Ach, wie stolz
war er doch damals auf seine Heldentat
gewesen! Ganz lebhaft erinnerte er sich
daran. Jugendzeit:... Da war er mit
einem Male der kleine Junge aus dem
Bayerischen Wald, das Herz voller Mit-
leid und bereit zu Kelsen, wie einstmals
vor einundzwanzig Jahren. Festentschlos-
sen began er der wildspur zu folgen.
XXun m ußte er wissen, wohin sie führte.

Das Gefühl, das ihn vorhin beengt
hatte, schien plötzlich gewichen zu sein. Er
freute sich. Im Sonnenglanz leuchtete die
weiße Pracht ringsum, als sei er ins
Märchenland getreten. Niedliche weiße
Rokokodamen standen still und steif neben
ihm, als seien sie eben beim Menuett er-
starrt. Über ihm der strahlende, gold-
blaue Fimmel, unter seinen Füßen der
weiche, glitzernde Schnee und...

plötzlich stockte sein Gleiten. Da, in der

Jungholzgruppe, lag etwas Dunkles ...
und, o Gott, Blut, viel Blut, Hier endete
die Spur. Ein totes Reh lag vor ihm. In
der Nahe des Halses zeigte sich eine
Schußwunde, aus der unaufhörlich das
Blut gequollen sein mußte. Armes Tier!
Nun war es tot, nachdem es sich in Furcht
lind Schmerz und Pein durch den Hoch-
wald gehetzt hatte... Mit heißem Mit-
leid streichelte er die tote Rreatur, gleich-
sam als wolle er gut machen, was ein
anderer verbrochen. Seine Gedanken ver-
weilten in Ingrimm bei dem unbekannten
Frevler. Minutenlange stand er vor dem
Tier. Dann ging er.

Zwei Stunden steilen Aufstiegs hatte er
noch vor sich. Es hieß also, sich zu beeilen.
Bald kam der Steilhang wieder in Sicht.
Über diesen führte sein weg. Naher und
naher rückte er und mächtig wuchs seine
Breite. Endlich stand er vor ihm. Aber..
wo war die breite Mulde unten am Aus-
lauf des Hangs; — Verschwunden; Nein,
das war nicht gut möglich. Er hatte sie ja
vor einer Stunde noch gesehen... Da!
Jetzt wußte ers. Fast setzte sein Herz-
schlag aus vor Schreck: in der ganzen
Breite des ca. 40 Grad geneigten Ganges
hatte sich die Neuschneedecke gelöst und
war als gewaltiges Schneebrett hinab-
gerutscht in die breite Mulde unten, wie,
wenn er jetzt da oben gewesen wäre, wenn
er nicht umgekehrt wäre, der wildspur
folgend;...

Schicksal! Er gedachte des unheimlichen
Schattens, der sich ihm zu mittäglicher
Stunde Ln den weg gestellt, erinnerte sich
des unsicheren lahmenden Gefühls, das
ihn beschlichen und seinen Unwillen erregt
hatte — ja, dann war er plötzlich ein
kleiner mitleidiger Junge geworden, wie
damals im Bayerischen Wald. Und nun;
Er schauderte, wahrend er das tote Reh
streichelte, hatte sich hier eine RatastropKe
zugetragen, der er wohl kaum lebendig
entronnen wäre.

Am nächsten Morgen, als sich im däm-
mernden Frühlicht die zackigen Grate und
Gipfel ringsum in plastischer Schönheit
vom Fimmel abhoben, war er der Erste,
der der Sonne entgegenstieg. Droben
sandte er, das weite Gipfelmeer in seiner
Unendlichkeit überschauend, ein heißes
Dankgebet zu dem empor, der ihn gestern
einen kleinen mitleidigen Jungen werden
ließ, um sein Leben zu retten. In stiller
Andacht nahm er sein Hütl vom Ropf
lind schwenkte es grüßend hinüber zu den
fernen Heimatbergen, die im Gsten, licht-
blau und silberverdämmernd, als feine
wellige Linie aufstiegen.

L. WERNER, MÜNCHEN INHABER j. söhngen

MAXIMILIANSPLATZ 13

DIE BUCHHANDLUNG FÜR ARCHITEKTUR UND KUNST

Modernes Antiquariat Verlangen Sie Kataloge

832
Register
Christa Regner: Die Spur im Winterwald
[nicht signierter Beitrag]: Vignette
 
Annotationen