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Lockender Ruf

Von E. £. Christophe

gibt Zeiten in jedem Jahr, in denen
die winkligen Gassen kleiner Hafenstädte
fast gespenstisch wirken.

So war auch diese Nacht. Jan schritt
durch die Stadt wie trunken, ein wind
kam über die Höhen und füllte die Win-
kel, ein warmer wind mit schwerem Ruch.

Mochte Mitternacht sein, denn der volle
Mond schwebte wie ein tanzender gewalti-
ger Ballon durch die zerrissenen Wolken,
die den Fimmel zeitweilig bedeckten.

Jan scherte das nicht. Ihn traf es auch
nicht, daß gespenstige Schatten hinter den
Vorsprüngen der zerfallenen Mauern zu
lauern schienen, um, wenn sein Fuß in die
Nahe kam, zu nichts zu zerfließen.

Dann blieb er plötzlich stehen. Seine
mächtige Gestalt und die blauen, im Zwie-
licht des vollen Mondes seltsam funkeln-
den Augen gaben einen merkwürdigen
Rontrast. Man fühlte fast, daß trotz der
Hammerhände in diesem gewaltigen Rör-
per eine Seele schwang, die gutmütig
war, kindlich vielleicht und in der irgend-
eine fremde Sehnsucht nach Romantik
glühte.

Tief sog der Vollmatrose die milde Luft
ein. Dann schritt er weiter. So, als triebe
ihn ein Instinkt sicher und unbeirrbar
einem Ziele zu.

Dolores lächelte, als sie den Fremden
erblickte. Diesen Fremden, der wie ein
schwerer dunkler Turm durch die Dunkel-
heit wanderte, wie ein Gebäude von
Sicherheit und Ruhe.

Der Vollmatrose Jan blieb vor dem
Hausflur der Osteria stehen, als hatte ihm
eine Stimme ein unbewußtes Halt ins
Ohr geflüstert.

Da trat Dolores zwei Schritte nach
vorn, Schrittchen nur, und auch nur so
weit, daß der Zipfel eines einzigen Mond-
strahles voll über sie fiel.

war es nicht wie ein Spuck? war
diese Nacht verzaubert? Jan nahm die
Mütze vom Ropf. Langsam und zögernd
und wie unter einem inneren Zwang.
„Donna", sagt er dann, „Donna!" Das
war das einzige Wort in der Sprache, die
sie sprach, das er wußte.

Sie lächelte. Sie verstand ihn auch so.
In seinen Hellen Augen brannte nicht die
heiße Sonne, auch nicht durchlohte, süd-
liche Nacht, in seinen Augen leuchtete ein
klarer Schein, die Ferne.

Ihm aber war, als sei die Nacht selbst
herabgestiegen und wiege sich dort in die-
sem von seltsamen Rüchen erfüllten Haus-
eingang vor ihm, dem Fremden aus dem
Norden, wie ein farbiger, lockender
Traum.

Verlegen drehte er seine Mütze in den
breiten fanden, mit weiten Augen starrte
er sie an.

Da verließ sie die wand, an der sie

lehnte, und schritt voran, vor ihm durch
das stille, verzauberte Licht, über Platze
und durch gefährliche Torbögen, hinter
denen das Verderben zu lauern schien.

Dort, wo ein niedriges Haus wie ein
geduckter Vorposten gegen den üppig an-
drangenden wilden Wald stand, machte sie
halt. Blickte ihn an. Lächelte.

Er aber sagte abermals nur ein Wort:
„Donna." Es klang wie eine heran-
rauschende Sehnsucht...

Sie schritten durch das Haus in den
Garten, hinter dessen letzten Blumen
bereits der Wald wartete.

Sie träumten bunte Träume. Um sie
wob die Nacht die dunkle Decke.

Bis der Morgen kam. Mit dem Mor-
gen die Rühle. Die Rühle der See. Und
das Rauschen der See. Leicht nur und wie

ein schmaler, grauer Strich, wie ein
Schemen stand in der Ferne, noch weit
über dem Wald, das Wasser, das Meer..

Immer noch schlang sie ihren Arm um
ihn. Immer noch umflatterte ihn ihr
Haar. Aber schon klang in seinem Kerzen
der Ruf. Der Ruf des Meeres, über das
er kam.

Und wie das bei diesem Jan immer so
ist, langsam löste er den bunten Traum,
zärtlich fast entspann er die farbigen Fä-
den, küßte sie und ging.

Der Rühle nach. Dem Rauschen und der
unsichtbaren Stimme nach. Der Stimme,
die starkes ruft als fremde Gassen, die
klarer ist als fremde seltsam nebelnde
Rüche, der ewigen Lust und der unergründ-
lichen Liebe des Seemanns nach.

Ans Meer:

D r i x e 1 i u s

„Du, warum schnarcht denn heit dei Vater gor a so?(i
„Er hat halt sein Silvester rausch!^

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Register
Wilhelm (Willy) Drixelius: Zeichnung ohne Titel
Eduard Curt Christophé: Lockender Ruf
 
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