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je oft hört man gerade beim Eis-
kunstlauf das Wort „göttlich", wenn eine
Sonja Henie in prächtigen Pirouetten
übers Eis wirbelt oder unser Meisterpaar
Herber-Baier in herrlicher Harmonie von
£auf und Musik durchs weiß schimmernde
Eisparkett gleitet und es trifft auch
nirgends so den Nagel auf den Rops wie
gerade bei diesem einzigartigen Sport,
da kein anderer Sportzweig feine über-
irdische Abstammung so nachweifen kann,
wie geradewegs das Schlittschuhlaufen.
Die nordische Mythologie kennt die Person
einer Gottheit des Eislaufs: Ullr. Dieser
Gott soll der Sage nach die Runst erfun-
den haben, aus den Röhrenknochen der
Renntiere Schlittschuhe zu fertigen und er
wird geschildert, wie er sich über das Eis
der Gletscher gleich einem Fisch in den
Fluten des Meeres bewegte. Jedoch war
den Nordländern der Gebrauch der Schlitt-
schuhe kein Sport wie bei uns, sondern er
war ihnen im harten Lebenskampf genau
so notwendig wie der Gebrauch der Waf-
fen. Noch in letzter Zeit gab es in Nor-
wegen Militärschlittfchuhabteilungen, die
,,Skierloebers". Doch das alles ändert
nichts daran, daß der Schlittschuh der
Sage nach in gerader Linie von den Göt-
tern kam.

Doch wie jedes Göttergeschenk erlebte
auch das Eisläufen ein wechselvolles
Schicksal, wo man es brauchen konnte,
da fand man es praktisch und übte es un-
verdrossen die Jahrhunderte hindurch,
wie z. 23. in Holland. Anderwärts — nicht
zuletzt in Deutschland — fand man für
diesen „Auchsport" höhnische Verachtung
und beißenden Spott, wenn erwachsene
Menschen Freude daran fanden, über das
Eis zu gleiten.

Die Engländer gebrauchten noch im
16. Jahrhundert die knöchernen Schlitt-
schuhe. In seinem 1596 erschienenen Werk
„Survey os London" beschreibt John
Stow das Treiben auf den zugefrorenen
wiesen von Moorsield: „Diese Leute —
die Schlittschuhläufer — bewegen sich mit
der Geschwindigkeit eines Vogels, der
durch die Luft fliegt. Zuweilen stellen sich
zwei Leute einander gegenüber und ren-
nen dann mit eingelegten Stöcken gegen
einander los, als gälte es Lanzen zu bre-
chen, einer von ihnen oder beide fallen zu
Boden, wobei sie schmerzhafte Stöße ein-
stecken. Durch die heftige Bewegung gleiten
sie auch nach ihrem Fall noch ein Stück
weiter. Fällt dabei einer aus seinen Arm

oder Fuß, so ist dieser in der Regel ge-
brochen. Sinnige Wintersreuden!" Und
höchst überflüssig bemerkte der gute John
Stow noch dazu, daß derlei Spiele den
Frauenzimmern wenig anständen und daß
man darum die Frauen und Jungfrauen
wenig oder gar nicht diesem Spiel huldi-
gen sähe.

wer weiß, ob Ln Deutschland aus dem
Eissport jemals etwas richtiges geworden
wäre, hätte der alte Gott Ullr nicht einen
seltsamen Propheten gesunden. Und zwar
war es dem Dichter Rlopstock Vorbehalten,
der Erwecker des Eislaufssports zu wer-
den. Er tummelte sich mit höchster Begei-
sterung auf dem Eise und wurde zum
glänzenden Propagandisten dieses Sports.
Unter anderem schrieb er auch eine lang-
atmige Abhandlung über den Eislauf. Bei
dem großen Einfluß, den der Dichter
seinerzeit aus das geistige Leben besaß,
nimmt es nicht wunder, wenn seine begei-
sterten Worte in kürzester Zeit eine regel-
rechte ELslausmode entfachten, zumal die
Art des Schlittschuhlaufens zu Rlopstocks

Zeiten auch dem weiblichen Geschlecht eher
Zusagen konnte, als jene, die man mit
gesträubten Haaren bei dem seligen John
Stow zwei Jahrhunderte zurück nachliest.

Seit Rlopstock ist dann auch der Eislauf,
der wie kein anderer Sport die Anmut der
Körperbewegung zur Geltung bringt, nie
mehr aus der Mode gekommen. In knapp
joo Jahren war man in England sogar
schon so weit, daß man die Eissportsreu-
den auch im Sommer nicht mehr missen
wollte, so daß die künstlichen Eislaus-
bahnen entstanden. Noch lange Jahre nach
der Jahrhundertwende galt im Winter die
Eislausbahn als das Zentrum des gesell-
schaftlichen Verkehrs und wenn in unseren
Tagen auch der Ski das favorisierte win-
tersportgerät ist, der Volkstümlichkeit des
Schlittschuhs konnte er keinen Abbruch
tun. Immer wieder zieht die hohe Runst
einer Sonja Henie, eines Rarl Schäfers,
Raspars, Herber-Baiers Tausende und
Abertausende in ihren Bann und stände
Gott Ullr aus, er hätte seine helle
Freude daran. Rudolf Spitz

L e h 111 a 11 11

„Bahn frei den Tüchtigen/“ — „Aber erlauben Sie mal, wenn ich ’nen Mann
hätte, wären Sie längst überfahren!e

1939 / JUGEND Nr. 1 / 3. Januar 1939 Einzelpreis 40 Pfennig

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Register
Herbert Lehmann: Zeichnung ohne Titel
Rudolf Spitz: Das göttliche Schlittschuhlaufen
 
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