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Verdunkelter D-Zug . . .

Nette Reisebekanntschaften sind immer
zu schätzen, besonders aber bei langen
Bahnfahrten im verdunkelten Zug, die ei-
nem keine Möglichkeit anderen Zeitver-
treibs lassen. Als mein Freund Karl, ein mit
allen Wassern gewaschener Reiseonkel,
neulich wieder einmal auf Tour ging, wird
er also nicht gerade ganz zufällig in das
Abteil geraten sein, in dem sich schon
eine nicht nur entzückende, sondern vor
allem auch allein reisende junge Dame
eingerichtet hatte. Daß sich ihnen dann
kein weiterer Mitreisender mehr gesellte,
bezeichnet Karl selbst als eine glückliche
Fügung des Zufalls. Wie dem auch sei,
bald war — wer meinen Freund kennt wird
das verständlich finden — zwischen den
zweien eine angeregte Unterhaltung in
Gang. Die Kleine war „gerade recht so":
nicht zu sehr zugeknöpft, aber auch nicht
allzu leicht zugänglich, so daß Karl es
schon wagen konnte, sie zu einer kleinen
Stärkung für die bevorstehende Nachtfahrt
in den Speisewagen einzuladen. Sie lehnte
jedoch ab. Sie wolle lieber bei ihrem Ge-
päck bleiben; lange werde er ja wohl
nicht fortbleiben — „sonst fürchte ich mich
am Ende doch, so ganz allein in der Dunkel-
heit." Beschwingten Herzens kehrte Karl
nach einer kleinen halben Stunde aus dem
Speisewagen zurück. Das hatte er doch
mal wieder fein eingefädelt, und — halt,
da war ja schon das Abteil! Sieh da: die
Kleine schien sich tatsächlich etwas ge-
fürchtet zu haben; hatte sich in ihrer Ecke
bis an die Nasenspitze in eine .Reisedecke
verkrochen. „Nun, hat es zu lange gedau-
ert?" Keine Antwort. „Eingeschlafen, klei-
nes Fräulein?" Wieder keine Antwort! Hm,
also wirklich sanft entschlummert. Um sich
darüber volle Gewißheit zu verschaffen,
beugte sich Karl diskret über das Gesicht
seines Gegenübers. Ob er dabei nun durch
eine heftigere Schlingerbewegung des
Wagens die äußere oder durch die eigen-
artig reizvolle Stimmung der Situation die
innere „Contenance" verloren haben mag
— jedenfalls streiften seine Lippen plötz-
lich das allein aus der dicken Vermummung
hervorspitzende Näschen der Dame. Im
selben Augenblick erhielt er auch schon
eine Ohrfeige, daß ihm die Funken vor den
Augen tanzten. Die Überfallene stimmte
ein Mordsgeschrei an, der Schaffner stürzte
herbei und im Schein dessen Blendlaterne
erkannte Karl mit Entsetzen, was er da an-
gerichtet hatte. Er war in dem verdunkel-
ten Seitengang um ein Abteil zu weit ge-
gangen. Statt an seine hübsche Kleine war
er an eine schon reichlich bejahrte Dame
mit Doppelkinn und Schnurrbartanflug ge-
raten ... i arm

Das Kinderhöschen

Dieses Geschichtchen hat keine Pointe
und keinen Schluß. — Warum ich es trotz-
dem erzähle? — Weil es wahr ist.

Vor ein paar Wochen heiratete mein
jüngerer Bruder. Es war eine Hochzeit im
engsten Familienkreise. Bei solchen Ge-
legenheiten ist es gang und gäbe, Kind-
heitserinnerungen aufzufrischen und dem
Brautpaar sinnige Geschenke mit witzigen
Versen verbrämt zu überreichen.

Mein Bruder erhielt eine besonders rei-
zende Morgengabe, ein kleines, niedliches
Kinderhöschen. Keins aus Seide mit einem
Gummiband, sondern ein altmodisches
Etwas aus handfestem Leinen. Oben saß
ein ordentlicher, doppeltgenähter Bund
mit einem Knopf zum Schließen, unten an
den zierlichen Hosenbeinen befand sich
der einzige dekorative Schmuck, eine aus-
gebogte Spitze. Kein Brüsseler Fabrikat
— eine einfache, derbe Lochstickerei. Hin-

Tamara Roub a u d

Von Wolff Eder

Alle braven
Kinder schlafen
jetzt, wie Mutti sagt.

Auch die Blumen auf dem Rasen
und im Stall die Hoppelhasen,
bis der Morgen tagt.

Sterne scheinen,
daß den Kleinen
nichts die Ruhe stört.

Mutter kommt vorm Schlafengehen,
noch nach ihrem Kind zu sehen,
leise, ungehört...

ten trug man diese Höschen offen — der
Bequemlichkeit halber.

Dieses Erinnerungsstück aus einer froh
verlebten Kindheit hatte eine regelrechte
Lebensgeschichte hinter sich.

Angeschafft wurde es vor einer Reihe
von Jahren für meinen älteren Bruder. Er
trug es, bis seine strammen Oberbeine
und das sich wölbende Hinterteil die
Nähte zu sprengen drohten.

Mittlerweile hatte ich als zweiter Sohn
das Licht der Welt erblickt. Aus verständ-
lichen Gründen der Sparsamkeit ging das
Höschen in meinen Besitz über. Ich kann
mich nicht mehr erinnern, wie lange ich
es unter meiner doppelbödigen Hose
spazierengeführt habe. Jedenfalls ist es
auch mir nicht gelungen, das Leinen
durchzuscheuern.

Eines Tages war der Wiegenkorb wieder
besetzt, und das Kinderhöschen wurde er-
neut in den Dienst gestellt. Mein Bruder
Otto ist schätzungsweise bis zu seinem
vierten Lebensjahr darauf herumgerutscht.
Das Höschen hat standgehalten.

Als er ihm entwachsen war, wechselte
es in den Besitz einer verwandten Familie
über. Eine Kusine, die uns Jungen an
Jahren weit voraus war, hatte kurz hinter-
einander drei Mädels bekommen, und da
in dem rasch bevölkerten Lehrerhaus tüch-
tig gespart werden mußte, so wurde das
Leinenhöschen dankbar begrüßt. Erst trug
es die älteste, dann die zweite und
schließlich die dritte Tochter. Nach die-
ser trat es endlich in den wohlverdienten
Ruhestand. Aus Dankbarkeit für treue
Dienste und als Erinnerung an die Zeit
ihres jungen Mutterglücks verwahrte es
die Lehrersgattin in einer Wäschelade.

Die Jahre gehen dahin ... Aus den halb-
wüchsigen Jungen sind fertige Männer
und aus den Hängezopfgören hübsche,
heiratsfähige junge Damen geworden.

Der Zufall wollte es, daß aus meinem
Bruder Otto und der Mittleren des Drei-
mäderlhauses ein Paar wurde.

Und nun ergab sich bei der Hochzeit
ein schicksalhaftes Zusammentreffen, wie
es nur das Leben selbst in seiner frohesten
Spiellaune zuwegebringt. Braut und Bräu-
tigam hatten — als sie ihre ersten, tasten-
den Schritte in die Welt taten — in ein
und demselben Höschen gesteckt-

Karl Blanckmeister

In den Bäumen
jagt den Träumen
nach ein lauer Wind.

Mutter will mit frohem Lächeln
Lieblings heiße Stirne fächeln...
Gute Nacht, mein Kind!


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Karl Roth

Geographie

Der Herr Schulinspektor war bei der Erd-
kundeprüfung sehr streng. Was der alles
wissen wollte! Aus welchen Reichen
Nordamerika bestehe und wie dort der
größte Strom heiße und an welcher Seite
New-York liege und was Florida sei und
was die Indianer für Leute wären. So ge-
plagt waren die armen Schäflein in Adel-
dorf noch nie geworden. Sie zitterten und
sahen zum Herrn Inspektor wie zu einem
allwissenden Zauberer auf. Der Franz in
der letzten Bank war noch am gefaßtesten.
Er saß weitab vom Schuß und nagte an
den Fingernägeln.

Auch diese Stunde ging vorüber und die
kleinen Adeldorfer schritten erschüttert
ihren Behausungen zu. Aber wer kam
da an ihnen vorbei? Niemand anderer als
der Herr Inspektor. Gerade beim Franzi
blieb er stehen und fragte ihn um den
Weg nach Weißenfeld. Der Franzi besann
sich nicht lange. Er blieb stehen und
deutete von seiner Nase weg nach vorne.
Der Herr Inspektor schritt rüstig weiter.

Der Franz aber, der lachte und schlug
sich auf die Knie: „Seht ihr", sagte er zu
den anderen, „so gescheit ist der. In
Amerika, da weiß er alles, aber bei uns,
bei uns weiß er nicht einmal den Weg von
Adeldorf nach Weißenfeld!"

Robert Kn oteck

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Register
Robert Knoteck: Geographie
Wolff Eder: Unser Kind schläft
Tamara Roubaud: Reproduktion ohne Bezeichnung
Karl Roth: Zeichnung ohne Titel
Karl Blanckmeister: Das Kinderhöschen
Signatur nicht identifiziert: Verdunkelter D-Zug
 
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