Jos. P. Wacker le
Die Tränen
der Prinzessin Mai-Li . . .
Ein chinesisches Märchen
von VPolff Eder
Der alte Raiser Hoang-wei saß im
Garten seines Palastes und wartete... Es
war das wichtigste, was er gerade an
Regierungsgeschaften zu tun hatte, denn
seine Lieblingssrau sah ihrer schweren
Stunde entgegen, über die spitze Mütze
des Raisers, aus der ein großer demante-
ner Rnopf saß, kielt ein Rirschbaum den
rosaroten Baldachin blühender Äste. Und
an den schnabeligen Dachfirsten putzte die
Morgensonne die silbernen Tröpfchen
kleiner Glocken blitzend blank. Der Äaiser
Hoang-wei blickte zu ihnen hinauf, zog
gedankenvoll an seinen lackschwarzen Bart-
spitzen, die bis zur Brust herabhingen, und
seufzte tief... Es war so still im Garten,
daß er erschrak, als eine Tulpe sich ent-
blätterte. Und dann lauschte er wieder,
ob nicht die Glöckchen zu singen begannen,
feierlich und getragen, um ihm die Geburt
eines Söhnleins zu künden. So war das
seit ältesten Zeiten immer gewesen und
ihm, dein Raiser Hoang-wei, hatten sie
schon zweimal den schönen Dienst erwiesen.
Zwei Söhne besaß der Raiser. Der eine
war ein schöner und starker Krieger ge-
worden, der wie keiner im Heere den
Bogen führte. Der andere dagegen besaß
statt der Schönheit große Gaben des
Geistes, beherrschte alle Sprachen des
weiten Reiches und seine Klugheit be-
wunderten die weisen. Einen dritten
Sokn begehrte der Kaiser und mit ihm
das Volk, das draußen vor dem palaste
harrte.
Da begannen die silbernen Glöckchen zu
lauten, Koch und fein, wie kichernde Mad-
chen und der Kaiser erblaßte unter seiner-
gelben Haut. Eine Prinzessin war ge-
boren... „Ein unnützes Mädchen!" schrie
der Kaiser zornig. „Beim Blute des
Drachen, wollt ihr schweigen!" Aber die
Glöckchen bimmelten fröhlich weiter.
Hoang-wei riß den großen Edelstein von
seiner Mütze und warf ihn nach der Glocke,
die ihm zunächst war. „Klingling, kling-
ling! Prinzessin Mai-Li ist kein unnützes
Ding!" kreischte sie unbotmäßig zurück.
Doch der große Herrscher glaubte der ur-
alten Glocke nicht. Er war zu betrübt und
schlich in den verborgensten seiner tausend
Prunksale. Dort sperrte er sich ein. Auch
das Volk klagte mit ihm bis auf den
Gaffenbuben, der den weggeworfenen Edel-
stein fand, und die Kaiserin selbst. Die
küßte das zarte Wesen, lächelte glücklich
und starb.
In China sind Mädchen nichts wert,
weil sie nicht kämpfen können, sondern nur
leiden, obwohl das Leidenkönnen der
größte Kampf ist. wie es die Glocke ge-
wußt, wurde die Prinzessin Mai-Li ge-
nannt. Das heißt, niemand nannte sie so
außer der alten Kammerfrau, die sie er-
zog. Einsam wuchs Mai-Li im Palast
unter den vielen Menschen heran. ,,(D wie
schön bist du, Mai-Li!" pries oft die run-
zelige Alte. „Deine Augen glanzen wie
schwarze perlen, deine Brauen sind sanft
wie die Sichel des halben Mondes lind
903
Die Tränen
der Prinzessin Mai-Li . . .
Ein chinesisches Märchen
von VPolff Eder
Der alte Raiser Hoang-wei saß im
Garten seines Palastes und wartete... Es
war das wichtigste, was er gerade an
Regierungsgeschaften zu tun hatte, denn
seine Lieblingssrau sah ihrer schweren
Stunde entgegen, über die spitze Mütze
des Raisers, aus der ein großer demante-
ner Rnopf saß, kielt ein Rirschbaum den
rosaroten Baldachin blühender Äste. Und
an den schnabeligen Dachfirsten putzte die
Morgensonne die silbernen Tröpfchen
kleiner Glocken blitzend blank. Der Äaiser
Hoang-wei blickte zu ihnen hinauf, zog
gedankenvoll an seinen lackschwarzen Bart-
spitzen, die bis zur Brust herabhingen, und
seufzte tief... Es war so still im Garten,
daß er erschrak, als eine Tulpe sich ent-
blätterte. Und dann lauschte er wieder,
ob nicht die Glöckchen zu singen begannen,
feierlich und getragen, um ihm die Geburt
eines Söhnleins zu künden. So war das
seit ältesten Zeiten immer gewesen und
ihm, dein Raiser Hoang-wei, hatten sie
schon zweimal den schönen Dienst erwiesen.
Zwei Söhne besaß der Raiser. Der eine
war ein schöner und starker Krieger ge-
worden, der wie keiner im Heere den
Bogen führte. Der andere dagegen besaß
statt der Schönheit große Gaben des
Geistes, beherrschte alle Sprachen des
weiten Reiches und seine Klugheit be-
wunderten die weisen. Einen dritten
Sokn begehrte der Kaiser und mit ihm
das Volk, das draußen vor dem palaste
harrte.
Da begannen die silbernen Glöckchen zu
lauten, Koch und fein, wie kichernde Mad-
chen und der Kaiser erblaßte unter seiner-
gelben Haut. Eine Prinzessin war ge-
boren... „Ein unnützes Mädchen!" schrie
der Kaiser zornig. „Beim Blute des
Drachen, wollt ihr schweigen!" Aber die
Glöckchen bimmelten fröhlich weiter.
Hoang-wei riß den großen Edelstein von
seiner Mütze und warf ihn nach der Glocke,
die ihm zunächst war. „Klingling, kling-
ling! Prinzessin Mai-Li ist kein unnützes
Ding!" kreischte sie unbotmäßig zurück.
Doch der große Herrscher glaubte der ur-
alten Glocke nicht. Er war zu betrübt und
schlich in den verborgensten seiner tausend
Prunksale. Dort sperrte er sich ein. Auch
das Volk klagte mit ihm bis auf den
Gaffenbuben, der den weggeworfenen Edel-
stein fand, und die Kaiserin selbst. Die
küßte das zarte Wesen, lächelte glücklich
und starb.
In China sind Mädchen nichts wert,
weil sie nicht kämpfen können, sondern nur
leiden, obwohl das Leidenkönnen der
größte Kampf ist. wie es die Glocke ge-
wußt, wurde die Prinzessin Mai-Li ge-
nannt. Das heißt, niemand nannte sie so
außer der alten Kammerfrau, die sie er-
zog. Einsam wuchs Mai-Li im Palast
unter den vielen Menschen heran. ,,(D wie
schön bist du, Mai-Li!" pries oft die run-
zelige Alte. „Deine Augen glanzen wie
schwarze perlen, deine Brauen sind sanft
wie die Sichel des halben Mondes lind
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