Eine Rriegserinnerung / Von Hans Reiser
wir lagen vor Verdun und unsere
Batterie war einem preußischen Artillerie-
regiment zugeteilt worden. Ich war
Meldegänger zwischen Befehlsstab und
Feuerstellung. Anfänglich waren wir zwei,
dann wurde mein Begleiter verwundet
und ich mußte allein gehen.
Der weg, den ich jeden Tag zweimal
zurückzulegen hatte, war knorke. Der Be-
sehlsstab hauste in einem tiefen betonier-
ten Unterstand in einem sumpfigen zer-
schossenen Wäldchen. Auf einem Prügel-
weg gelangte ich an den Rand dieses Wal-
des. Dort lag das eiserne Gerippe eines
zerschossenen Munitionszuges, das aussah
wie das Skelett eines Lindwurms. Drei
Einundzwanziger hatten ihn in die Luft
geschleudert. In den Trichtern der Ein-
schläge hätten drei kleine Villen ganz gut
Platz gehabt; der Grund der Löcher war
mit einer merkwürdig karminroten Flüssig-
keit bedeckt. Rain man aus dem Wald
heraus, dann sah man die rauchende
Hügelkette von Verdun vor sich; der
Rauch war das von ununterbrochenen
Einschlägen in die Luft spritzende Erd-
reich. Dann führte ein Bahndamm über
die flache Ebene. Auch dieser wichtige
weg lag fast immer unter Feuer. Dann
flössen zwei Straßen (zwei knietiefe
Schlammbäche) am Eingang eines zer-
schossenen Dorfes in eine zusammen. Eine
besonders unangenehme Stelle, als Stra-
ßenkreu; und einziger Zufahrtsweg zu
den Stellungen ständig von feindlichen
Feuerüberfällen zugedeckt. Feldküchen,
Munitionskörbe, Geschützrädcr, tote
Pferde ragten aus dem Schlamm, im
breiten Drahtverhau links und rechts
hingen blaugrau uniformierte Skelette'
gefallener Franzosen.
Als ich den Schlamm das erste Mal
durchquerte, blieben meine Stiefel stecken.
Von da an umwickelte ich mir die Beine
mit Sandsäcken und band sie mit Telefon-
draht fest. Von dem Dorf waren nur
noch Schutthaufen und Mauerreste übrig,
dürftige Deckungen gegen die Eisenfetzcn
und Ziegeltrümmer spritzenden Einschläge.
Mehr als einmal hatte ich an dieser Stelle
eine Stunde lang auf dem Bauche ge-
legen, um einen Feuerübersall abzuwarten,
Stunden, die zu Ewigkeiten wurden.
Dann kam die Schlucht, wir hatten
ibr den Namen „Todcsschlucht" gegeben.
Ich mußte in die Senkung kinunter, das
Tai quer durch, den Hang hinauf und auf
halber Höhe, wo noch entästete Bäume,
Masten, Rippen und Gräten eines Waldes
ragten, entlang rennen. Der Boden war
wie Schweizerkäse durchlöchert, in den
alten Löchern stand das Wasser; eine
wässrige Mondlandschaft, umhcult vom
Hundewinseln der Geschosse. Schwer hing
sich der zähe Schlamm an die Füße, feind-
liche Flieger überkreAzten die Schlucht,
jede Truppe, ja selbst jeden einzelnen
Mann mit Blinksignalen zurückmeldend.
lind der Franzmann sparte nicht mit
Munition, fünfzig, ' sechzig Schuß für
einen Mann waren ihm nicht zu viel.
Endlich erreichte ich den steilen Hang, an
dem, neben einem halb eingestürzten fran-
zösischen Unterstand, unsere Geschütze
standen.
Ich hatte bis dahin unverschämtes
Schwein gehabt; aber ich war überzeugt,
daß dieses Glück nicht ewig dauern konnte.
Eines Tages kam ich wieder von der
Stellung zurück, mckr tot als lebendig.
Ich sah wenig soldatenmäßig aus. Uleine
Ausrüstung bestand aus der Meldetaschc,
einer Drahtschere und der Gasmaske. Seit
Wochen weder rasiert noch gewaschen,
dazu die lehmbekrustcten Beine und die
Mütze auf bayrisch wurschtige Art schief
verwegen auf dem Schädel.
Der prügelwcg lies nicht weit von dem
Befehlsvnterstand vorbei. Ich glaubte
wohl, einen Offizier zu sehen, schaute aber
nicht genau hin, noch grüßte ich.
Raum war ich in meinem „(Quartier" —
zwei aneinander gelehnte Wellbleche —
und dabei, meine Schlafdccke auf den
Boden zu breiten, da erschien ein preu-
ßischer Unteroffizier.
„Der Bayer soll sofort zum Herrn
Major kommen!"
„So wie ich bin; Ich kann doch nicht
in dem Zustand —"
„So wie er ist, hat er gesagt!"
Das kann ja nett werden! dachte ich.
Ich erwartete einen gewaltigen Anschnau-
zer, weil ich nicht gegrüßt hatte und weil
die Rokarde meiner Mütze überall war,
nur nicht da, wo sie hingehörtc. Die
Preußen legen wert auf solche Sachen!
Ich stolperte in den Unterstand hin-
unter. „Gefreiter Reiser zur Stelle."
„Sie sind der Bayer;"
„Jawohl Herr Major!"
„lind was inacht die Runst;"
„Nicht viel, Herr Major —"
„Sie sollen sehr gut zeichnen können,
hat mir Ihr Hauptmann gesagt!"
„Is nicht gfährlich, Herr Major!"
„Gefährlich nicht, aber gut! Rönnen Sie
mich zeichnen mit meinem Unterstand;
Meine Frau hat Geburtstag und da
möchte ich ihr ein Bild schicken."
„Rann ich, Herr Major."
„Gut, Sie geben dann morgen nicht in
die Stellung, ich werde einen von meinen
Leuten vorschicken. Rommen Sie um neun
Uhr oder um zehn, wie sie wollen."
Das war wieder echt von meinem
Hauptmann! Er hatte in den Vogesen, wo
ich mehr Zeit gehabt hatte, meiner Zei-
chenlust zu fröhnen, meine Skizzen gesehen
und mir einige abgekaust. Er trug sie in
der Brieftasche und hatte sie dem neuen
Befehlshaber, als er sich ihm vorstelltc,
sofort gezeigt: „Sehen Sie mal, Herr
Ramerad, das hat ein Gefreiter von
meiner Batterie gemacht!"
Es war großartig, ich hatte einen
ganzen freien Tag vor mir. Und am an-
deren Tag regnete es nicht, es war ein
richtiger erster, sonniger Frühlingstag.
So schön, daß sogar der Franzmann ver-
gaß, herüber zu funken.
Die Skizze gelang, der Major hatte
eine Mordsfrcude. „was darf ich Ihnen
geben;"
„Nichts, Herr Major!"
„Sie rauche» doch!"
„Ziemlich heftig!"
Er gab mir hundert Zigaretten und
eine Flasche wein. „Sie sind abgelöst, Sie
können zurückgehen!"
Die Flasche habe ich schnell leer ge-
macht. Es war schwerer, dicker Bordeaux.
Glücklich und beduselt hockte ich mich aus
die kleine Munitionstransportbahn, die in
die Ruhestellung holperte.
Einige Tage später erfuhr ich, daß der
Mann, den der Major für mich vor-
gcschickt hatte, gefallen war. —