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Kemp, Wolfgang; Heck, Kilian [Hrsg.]
Kemp-Reader: ausgewählte Schriften — München, Berlin: Dt. Kunstverl., 2006

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https://doi.org/10.11588/diglit.55647#0125

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Beziehungsspiele
Versuch einer Gattungspoetik des Interieurs

»Das Interieur hatte gesprochen,
die Dinge, das Fenster.«
(Rainer Maria Rilke, Worpswede)
Eine Gattung ist die Definition einer Klasse von Gegenständen mit bildnerischen
Mitteln. Etwas anders und poetischer, gattungspoetischer gesagt: Eine Gattung eröffnet
den Raum, innerhalb dessen das Erscheinen einer Klasse von Gegenständen möglich wird.
Die Schullogik definiert Definition als begriffliche Grenzbestimmung. Ihre Operationen
sind die Angabe des zuständigen höheren Gattungsbegriffs und des Artunterschieds, der
spezifischen Differenz. Um das einmal kurz durchzuspielen: Die Art oder Subgattung
Interieur ist der Gattung der Genremalerei unterzuordnen. Wie diese hat sie die Welt
des Alltäglichen und Privaten, des Gegenständlichen und Zuständlichen zum Thema.
Im besonderen aber bearbeitet sie diese Thematik unter den Bedingungen des Innen-
räumlichen, die sie zu einer eigenen Weise des In-der-Welt-Seins steigert - Innenleben, der
Titel dieser Ausstellung weist in diese Richtung. Das andere des Interieurs ist das Exterieur,
die Landschaft. Das Stilleben, die Erzählung des privaten Lebens, aber auch das Portrait,
vor allem, wenn es Milieu-Portrait ist, sind Nebengattungen des Interieurs; sie partizipie-
ren an den Ausdruckswerten des Räumlichen, setzen jedoch andere Schwerpunkte: auf die
Objektwelt, auf das typische Geschehen, auf die Person beziehungsweise die soziale Schicht.
Erst wenn die Bildbestände sich dem Milieu des Innenräumlichen unterordnen, dann spre-
chen wir mit Fug und Recht vom Interieur. Dies ist der Unterschied zwischen »Klavier-
spielende Frau« und »Interieur mit klavierspielender Frau«.
Soweit gelangt man definierend, Grenzen bestimmend, relativ problemlos. Die Schwie-
rigkeiten beginnen in dem Moment, da man sich vergegenwärtigt, daß die Kunst anders
als das Denken nicht durch Grenzziehung groß geworden ist, sondern ihre ureigene Auf-
gabe im Stiften von Zusammenhängen gefunden hat. Sie kann gar nicht anders als
Grenzen ziehend, Grenzen zu überschreiten. In diesem Sinne möchte ich noch einmal neu
ansetzen: Das Gesetz einer künstlerischen Gattung heißt, eine Welt und eine Weise des
Weltseins (modus essend!) eingrenzen und dann das Ausgegrenzte in gattungsförmig an-
verwandelter Form wieder zulassen. Eine Gattung ist also eine komplementäre Ganzheit,
eine potenzierte Einheit aus dem Eigenen, dem Nächsten und dem anderen.1 Und eine
Gattung untersuchen heißt: den historischen Stand der Vermittlung zwischen dem Ein-
und dem Ausgegrenzten erforschen.
i Mustergültige Analysen hat nach diesem Modell David R. Smith am holländischen Portrait und Sittenbild
des 17. Jahrhunderts durchgeftihrt. David R. Smith: Irony and Civility: Notes on the Convergence in 17^-
Century Durch Painting, in: The Art Bulletin, LXIX, 1987, S. 407-430; Ders.: Carei Fabritius and Portrai-
ture in Delft, in: Art History, 13,1990, S. 151—174; Ders.: Rhetoric and Prose in Durch Portraiture, in: Durch
Crossing, 41,1990, S. 72—109.
 
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