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Kemp, Wolfgang; Heck, Kilian [Hrsg.]
Kemp-Reader: ausgewählte Schriften — München, Berlin: Dt. Kunstverl., 2006

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https://doi.org/10.11588/diglit.55647#0229

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Wörtlichkeit und Weltlichkeit
Beobachtungen an einer schwedischen Bilderdecke des 13. Jahrhunderts

Die Kunst des Mittelalters ist niemals in jener Funktion aufgegangen, welche die Theo-
logie ihr zugedacht hatte: als Bilderbibel die Unterweisung der Laien zu unterstützen.
Die historischen Notwendigkeiten, die ihr einen ungleich weiteren Radius sicherten, wa-
ren ganz verschiedener Natur. Ich konzentriere mich hier auf eine und pointiere sie fol-
gendermaßen: Weil die Bibel so ist, wie sie ist, war die Kunst gehalten, den engeren Auf-
gabenbereich einer Bibelillustration zu überschreiten. Nicht nur die Kunst ist demnach
auf die Bibel angewiesen, was hier nicht bestritten wird: es gilt auch die Umkehrung, die
sehr viel seltener bedacht wird; die Bibel ist auf die Kunst angewiesen. Sie braucht die
Kunst genauso wie sie alle anderen Transformationsprozesse und Vermittlungsinstanzen
braucht, die sie als heilige Schrift in die Kreisläufe praktischer Religion integrieren; dazu
gehören neben Liturgie, Predigt, Kirchenjahr, Kirchenmusik, geistlichem Spiel auch die
Architektur und die bildende Kunst. Aber diese Dimension des Funktionalen und
Applikativen steht hier nicht zur Debatte. Es geht vielmehr um die innere >Insuffizienz<'
der >Schrift<, die es nötig macht, daß viele Hilfssysteme dieses eine Buch in der Mitte
einer religiösen Kultur erhalten. Solche Überlegungen müssen bei der Spezifik der Bibel
ansetzen, in diesem Fall bei der Tatsache, daß sie eine historische Erzählung ist. Sicher:
als Kompendium unterschiedlichster Textarten umfaßt sie auch zahlreiche nicht-narra-
tive Passagen und Bücher. Gleichwohl wird sie von einer großen Rahmenerzählung,
einer tragenden Geschichtskonstruktion motiviert und zusammengehalten, welche zen-
tral das Gottes- und Weltverständnis dieser beiden Religionen betrifft, die sich in sie tei-
len. Wie Paul Ricoeur so schön gesagt hat: »Not just any theology may be attached to
the story form«.* 1 2
Das konstitutive Merkmal »story form« ist für zwei Defizite verantwortlich, für ein
immanentes und für ein von außen herangetragenes. Wenn schon Erzählen groß-
geschrieben wird, dann könnte eine berechtigte Forderung lauten: Bitte alles und alles
richtig Erzählen. Wir wissen, daß beide Testamente auf diese Erwartung ganz ungleich-
mäßig und in der Mehrzahl der Fälle eher unbefriedigend reagieren; beide lassen vieles
ungesagt, vieles offen, beide geben sich oft ohne Not kaustisch, karg, ja herzlich desinte-
* Wichtige Anregungen verdankt dieser Aufsatz einer studentischen Arbeitsgruppe meines Instituts, die sich
mit Fragen der Narrativik beschäftigt.
1 sufficit sibi: »sie [die hl. Schrift] genügt sich selber«, haben biblische Theologen von Tertullian bis Luther
erklärt und dagegen verstoßen, noch bevor die Tinte dieser Worte trocken war.
2 Paul Ricoeur, zit. bei Kevin J. Vanhoozer, The Semantics of Biblical Literature, in: D. A. Carson und John
D. Woodbudge (Hg.), Hermeneutics, Authority and the Canon, Grand Rapids (Mich.) 1986, S. 81.
 
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