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Kerschensteiner, Georg
Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung: neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.27816#0522
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Begabungsunter-
schied und Me-
thodenschablone.

§ 14-

Pädagogische Schlussbetrachtungen allgemeiner Art.

\

Die Untersuchungen über die Entwickelung der zeichnerischen
Begabung lösten in mir noch eine Anzahl von Fragen aus, die nicht
direkt die Entwickelung der graphischen Ausdrucksfähigkeit betreffen.
Kaum jemals hat, wie ich glaube, eine Untersuchung ein so helles Licht
auf den Begabungsunterschied der Schüler einer Klasse geworfen wie
die vorliegende. Wenige Jahre nach dem Schuleintritt beginnt eine
Differenzierung der Leistungsfähigkeit der Kinder, die von Jahr zu
Jahr zunimmt. In den vier oberen Klassen sind alle Stufen der
graphischen Ausdrucksfähigkeit vertreten, das primitivste Schema neben
der charakteristischen Körperdarstellung, völlige Raumlosigkeit neben
dem vollendeten Raumbild, grenzenlose Armut an rhythmischem Ge-
fühl neben einer Ornamentik, die alle Forderungen der Kunst erfüllt.
Es ist gar kein Zweifel, dass wir dieselbe Erscheinung entdecken
würden, wenn wir auf anderen Gebieten der menschlichen Ausdrucks-
oder auch nur der Aufnahmsfähigkeit die gleichen Untersuchungen
anstellen würden, auf dem Gebiete der Sprache, der Mathematik und
des Rechnens, auf allen Gebieten experimenteller Beobachtung und
nicht zuletzt auf den Gebieten der Willens- und Gefühlsbegabung.
Da sitzt eine Klasse von 50 Kindern vor uns, die sich alle äusserlich
im wesentlichen gleichen. Aber könnten wir durch die fünfzig
glänzenden Kinderaugenpaare in den Grund der fünfzig Seelen sehen,
um die wahre Gestalt des Kindes zu erkennen, so würden wir Ge-
staltsunterschiede bemerken, die grösser sind als die Formenunter-
schiede zwischen dem im Staube kriechenden Regenwurm und dem
in den Lüften sich wiegenden Adler, der braunen Alge an den Felsen
der nordischen Meere und der blühenden Orchidee im tropischen
Urwalde. An alle diese Seelengestalten der Klasse treten wir mit
den gleichen Schulvorschriften heran. Ein und derselbe Lehrstoff
 
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