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Kerschensteiner, Georg
Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung: neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.27816#0523
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§ 14- Pädagogische Schlussbetrachtungen allgemeiner Art.

503

liefert die gleiche geistige Nahrung, ein und dieselbe Methode flösst
sie ihnen ein, ein und dieselbe Unterrichtszeit gibt ihnen den gleichen
engen Spielraum für die Entwickelung ihrer Formen. Da ist es ein
wahres Glück, dass diese Begabungsunterschiede nicht gleichmässig
die nämlichen Kinder treffen, sondern dass das eine Kind in einzelnen
Begabungen das andere übertrifft, während es in anderen Begabungen
unter ihm steht, dass das eine aufnahmsfähiger, das andere mehr
zum Schaffen geneigt, dass das eine seine Stärke im Gedächtnis, das
andere im Denken hat, dass das eine grösseren Fleiss an mechanischen,
das andere an Beobachtungsaufgaben verwendet, dass das eine seine
Freude an der Sprache, das andere an Mathematik oder Naturwissen-
schaften oder Handfertigkeit findet. Sonst müsste bei der gemein-
samen Kost ein Kind bisweilen verhungern, während das andere
überfüttert wird. Da ist es weiter ein Glück, dass wenigstens die
Volksschullehrpläne eine gewisse Mannigfaltigkeit der Nahrung bieten,
wenn schon sie auch hier noch namentlich in bezug auf die Förderung
der produktiven Kräfte stark ergänzungsbedürftig ist. Je länger wir aber
bei dieser Erscheinung der Begabungsunterschiede verweilen, Je- leb-
hafter und je klarer unsere Vorstellung von ihr durch die kaum glaub-
lichen Differenzen des graphischen Ausdrucks bei den Schülern einer
Klasse wird, desto stärker wird uns die Gefahr bewusst, die in der
unnachsichtlichen Durchführung der Forderung der sogenannten har-
monischen Ausbildung und der gleichmässigen Förderung einer Klasse
auf allen Unterrichtsgebieten liegt. Wir werden uns bewusst, dass
wir solche Forderungen nur in sehr weiten Grenzen erheben können,
wenn wir nicht die Verantwortung des Seelenmordes auf uns laden
wollen. Wir werden uns auch bewusst, dass wir bei der Organisation
von Mittelschulen eine grosse Zahl von geistigen Kräften verkümmern
lassen, wenn wir, wie das heute in Deutschland geschieht, ohne
Rücksicht auf die Begabungsdifferenzen diese Mittelschulen nach
einem und demselben Schema ausgestalten und nicht vielmehr
den grossen Begabungsgruppen der Menschen Rechnung tragen,
den Gruppen der Gedächtnisbegabungen, den Gruppen der Be-
obachtungsbegabungen, den Gruppen der theoretisch-spekulativen
und denen der empirisch-technischen Begabungen. Wir erkennen
auch, dass es durchaus keine verfehlten Massnahmen waren, wenn
die Mannheimer Volksschulorganisation jene Kinder in besondere
Klassen sammelt, die nach den verschiedensten Seiten hin arm an
geistigen Kräften sind. Ich bin überzeugt, dass trotz aller Vorein-
genommenheit gegen diese Organisation die Zeit eine Entwickelung
unserer allgemeinen Volksschule bringen wird im Sinne dieser
 
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