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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 2.1886-1887

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Leixner, Otto von: Berechtigung und Grenzen des Realismus: eine Untersuchung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9417#0213

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Berechtigmig und Grenzen des Realismns

verhüllt sie nur die Schwierigkeiteu und erklärt den rätselhasteu Vorgang des Kunstschaffens gar nicht. Wir
wollen versuchen, der Lösung näher zu kommen.
Nehmen wir an, der Maler bilde mit seinen Mitteln einen Gegenstand nach. Das verkleinerte Abbild
ist auf derNetzhaut und wird im Geiste zur Vorstellnng, wird innerlich geschaut, aber nicht nur als Ganzes,
jeder einzelne Pinselstrich wird zuerst in der Vorstellung gemacht, dann erst löst sich jene Gruppe von Arm-
bewegungen aus, welche denselben aus dem Geistigen ins Körperliche, ins Sichtbare überträgt. Es scheinen
nun drei Bilder neben einander zu bestehen: Das Urbild, dessen Wirkungen der Künstler empfängt; das Ab-
bild, welches als unmittelbare Vorstellung in seinem Geiste lebt, und das Gemälde, das Nachbild. Jeder Teil
des ersten muß den Weg durch das zweite nehmen, nm zum dritten zu gelangen. Man sollte nun meinen,
daß bei diesem Vorgange die Wiedergabe des Wirklichen sich von selbst einstellen müßte. Das ist aber nicht
der Fall.
Dasjenige, was das Gemälde schafft, ist niemals das Urbild, sondern stets die Vorstellung; nur was
diese in sich aufgenommen hat, wird und kann in das Kunstwerk fließen, nur das Empfundene hat die Kraft,
auf Gestaltung des Bildes zu wirken. Das Wirkliche kennt z. B. eine Umrißlinie überhaupt nicht. Diese
ändert sich stets nach dem Standpunkt des Beschauers und ist nur in seiner Vorstellung vorhanden.
Haben wir in diesem Falle scheinbar drei Bilder gefunden, so kann es auch andere Fälle geben, wo
nur zwei vorhanden siud: wenn der Künstler aus Gedächtnisvorstellungen zuerst im Jnnern ein Bild schafft,
es innerlich s.cha ut, nnd dann nachschafft. Sind die Gedächtnisvorstellungen krästig, ist die Einbildungskraft
beweglich, so wird auch dieses ganz aus dem Geiste entstandene Gemälde an Lebendigkeit und Frische jenem
gleichkommen können, welches der Wirklichkeit nachgeschaffen worden ist.
Da nun das Kunstwerk im zweiten Falle thatsächlich entstehen kann, so ist der Schluß unabweisbar,
daß die eigentlich bewegende Kraft in der Vorstellung, also im Geistigen, liegt und die Wirklichkeit über-
hanpt nicht das Vorbild, sondern nur den Anstoß bietet, und daß also die Kunst ihrem tiefsten
Wesen nach geistig ist, ja gar nicht anders sein kann.
Der letztere Satz bedarf noch weiteren Nachweises. Nur eine Betrachtuug der Weise, in welcher sich
die Anschauuug entwickelt, kann uns auf den richtigen Weg führen.
Schon das Kind wählt unter den ihm zuströmenden Eindrücken aus, fühlt sich von gewissen Lauten,
Tastempfindungen, Farben angenehm, von andern unangenehm berührt, wie mehrfache, auch von dem Ver-
fasser dieses Aufsatzes augestellte Versuche ergeben haben. Das beweist an sich nur, daß der Kern des werden-
den Menschen etwas Eigenartiges, Ursprüngliches in sich trägt, worin die Auswahl der Vorstellungen nnd
deren Auffassung begründet ist. Das ist nun auch bei dem späteren Künstler der Fall. Er sieht die Welt um
sich in seiner Weise, aber noch ist der Wille nicht gekräftigt, uud er wird darum zumeist sich gewöhnen, die
Dinge mit den Augen der Umgebung zu schauen, z. B. mit jenen seines Lehrers. Dieser pflanzt dem Schüler
die eigene Anschauung ein, so daß dieser unter dem fremden Willenseiufluß, der ihm unbewußt bleibt, die
Dinge betrachtet. Jene Linien, Flächen, Farbenabstufungen, welche der Lehrer wahrnimmt, gehen in die Vor-
stellung des Lernenden über. Jndem er nun die Anßenwelt anschaut, sieht er das ihm Überlieferte in die-
selbe hiueiu. Wir sehen hier deutlich, daß die Vorstellung, also ein rein innerlicher Vorgang, die Auffassung
bestimmt. Betrachtet man z. B. die vielen Darstellungen von Auftritten aus der französischen Revolution, iu
denen Davids Einfluß hervortritt, so sieht man, daß alles so geschaut ist, wie der Meister seinen „Schwur
der Horatier" u. s. w. geschaut hat.
Wirft der Künstler nun auch in seiner Entwickelung diese ftemden Einflüsse allmühlich ab, so bleibt
dennoch sein Jch übrig, d. h. er schafft sich im Geiste eine eigene Art des Vorstellens und trägt nun diese
in seine Werke hinein. Gewiß kann er die „Natur" eifrig studieren, aber er vermag nichts anderes, als sie zu
seiner Vorstellung umzuwandeln und schafft so wieder eine besondere Art zu sehen, welche von seinem ganzen
Wesen abhängt. So zeigt sich uns das ganze Kunstschaffen als durch Geistiges bedingt, als auf jeder Stufe
der Entwickelung vou demselben abhängig. Verwirft ein Künstler z. B. das Schaffeu aus der Einbildungs-
kraft heraus und fordert er, daß jede Gestalt auf einem Bilde „nach der Natur" zu bilden sei, so bleibt er
dennoch im Zwange des Gesetzes. Er wählt sich das Modell. Jndem er das thut, schwebt ihm in der
Vorstellung die Gestalt als Schöpfung der Einbildungskraft schon vor; verwirft er ein unpassendes Vorbild,
so hat er bewiesen, daß es dem inneren Bilde nicht genüge.
Kurz: Die „Natur" als solche zu geben, ist einfach unmöglich, nur die Vorstellung allein läßt
sich künstlerisch gestalten.
Somit hängt es von ihr ab, ob ein Künstler so schafft, daß man ihn als Realisten, oder so, daß man
ihn als Jdealisten wird bezeichnen können. Aber diese Benennung bestimmt noch keine Grenzscheiden der beiden
Begriffe.
Der echte realistische Künstler kann zunächst ebensowenig wie der idealistische jenes inneren Leitbildes
entraten, welches vor jedem Kunstwerke im Geiste vorhanden ist, er kann sich als Mensch von der Notwendig-
 
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