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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 4.1888-1889

DOI Artikel:
Heilbut, Emil: Über die Kunst in England, [6]
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https://doi.org/10.11588/diglit.9419#0214

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164 Uber die Kunst in England

Weierhof. von John Lonstable

Liebe zur Natur ist da, weil er diese Liebe nötig braucht,
und weil er, ohne die Natur zu beobachten, doch nicht
so weit käme in seinen Bildern. Er beobachtet also, aber
beobachtet wie man einen Konkurrenten beobachtet, den
man schlagen will. Er gibt die Natur wieder, aber in-
dem er sie mit üppigen Vorhängen auf beiden Seiten ein-
faßt, damit das Ganze dann ein wundervoller Anblick sei,
zehnmal schöner als die Natur. Er ist ein gewaltiger
Künstler, wenn Künstler derjenige ist, der seine Kunst bis
zum letzten Griff beherrscht, bis sie ihm nichts mehr zu
versagen hat; aber er ist ein sehr häßlicher Künstler, wenn
Künstler derjenige ist, der die Mittel seiner Kunst auf
dem Altar der Hingabe opfert, sein glänzendes Ver-
mögen der Schöpferin Narur bescheidentlich, wie leiden-
schaftlich es auch in ihm woge, zu Füßen legt.

Dies ist nun modern gesprochen; es versteht sich,
daß eine solche Beurteilung, die einer Verurteilung Tur-
ners gleichkommt, als eine durchaus unhaltbare sich dar-
stellt vom historischen Gesichtspunkt. Denn Turner darf
nur nach und in seiner Zeit aufgefaßt werden, die neuen
Grundsätze waren erst im Entstehen und er war durch
nichts verpflichtet, sie zu kennen oder gar anzuerkennen.
Diese Grundsätze sind nicht neu. Ohne darüber zu
reden, haben die Größten sie stets befolgt und sie haben
gleich selbstverständlich in ihnen geruht, wie die Gesetze,
die die Wahrheit der Rede zur Pflicht machen, uns er-
füllen. Nur als Doctrin sind sie nicht aufgestellt ge-
wesen; man hatte keine Veranlassung, ehe nicht in der
langen und glanzvollen Epoche der Spätrenaissance gegen
sie gesündigt wurde. Hier bediente sich die wuchernde
Geschicklichkeit schon zusammengebrachter, fertiger Lettern-
reihen lieber, als daß sie noch die einzelnen Buchstaben,
getreu und mühselig beobachtend, zusammensetzte — bei

diesem Verfahren war alle keusche Liebe, alle Wahrhaftig-
keit zur Natur in den Winkel gekommen, und wir hatten
sie bei den Primitiven einerseits, bei den holländischen
Landschaftern andererseits wieder aufzunehmen; die „Prä-
raffaeliten", die es in England zu ihrer Aufgabe machten,
würden sich mit mehr Sinn Prä „rubens"fiten genannt
haben, denn erst etwa mit Rubens Zeit beginnt die
Sanction der Massenfälschungen.

Turner, ohne ein Verständnis für diese neuen Protest-
Gefühle zu haben, ohne z. B. durch seinen ausgezeichne-
ten Genossen Constable zur Kraft des einfachen Wahren
überzeugt zu werden, ist also im Sinne der entarteten
Renaissance wohl noch ein großer Maler zu neunen. Er
würde, ohne aufzufallen, selber für einen alten Farben-
künstler durchgehen; er ist mehr, als Salvator Rosa. Er
ist ein Meister der Technik, wie es wenige gibt, gewesen.
Auch seine Phantasie weist ihm eine der höchsten Stellun-
gen zu: und wenn ich ihm, historisch in seiner Zeit auf-
gefaßt, einen Platz unter den guten Künstlern immer noch
nicht einräumen kann, so ist es, weil er das Unglück
hatte, aus seiner Richtung zu kommen.

Jedes große Talent hat den Weg, den es gehen
muß und der durch keinen zweiten ersetzt werden kann.
Verfehlt es den Weg, so hat die Begabung nicht präzis
genug gesprochen und ist also für die Verhältnisse des
Talents nicht genügend gewesen; das Talent tötet sich.
Sieht es den Weg und schlägt ihn nicht ein, so kommt
es hingegen zu einem Zweikampf zwischen ihm und dem
Willen, der es zu verhindern gedenkt. Der Zweikampf
des großen Talents mit einem mächtigen Willen ist eines
der erschütterndsten Schauspiele. Zum Schluffe, gleich
den starken Männern auf dem Acker der griechischen
Sage, bringen Wille und Talent sich gegenseitig um.
Dieses Schauspiel ist nach meiner Ansicht — es liegt mir
ob, zu bekennen, daß ich alleinstehe — bei Turner ein-
getretcn.

Sein Talent ist ein Rembrandtisches gewesen und
sein Wille war Klassizität: das Resultat waren Feuer-
werke.

Ansichten aus Italien, eigentlich im Sinne und mit
den Koulissen Claude Lorrains, denen Rembrandt die
Sanftmut der Farbe geraubt und ein subjektiv zuckendes
Leuchten gegeben hat; dann wiederum Meisterstücke ganz
in Rembrandts Art, die durch Größe und alles auf-
hebende Regelmäßigkeit des Bizarren, also durch „Still"
im Nichtstilhaften um jenen Stil gekommen sind, welchen
sie haben könnten; das sind Turners Werke, von einem
umfassenden Gesichtspunkt aus betrachtet. Jur einzelnen
hat man sich das Vergnügen gemacht, dieselben in drei
Perioden abzuteilen; die ersten sind die schlechtweg eng-
lischen Jugendwerke, die zweiten die in der Art des Claude,
die dritten jene, in denen er sich befreit hat und Claudes
einrahmende Bäume nicht mehr braucht, um das Licht
bis in die Enden seiner Bilder leuchtend ausströmcn zu
lassen.

Turners Bilder sind Experimente, interessant für
den Kenner, aufregend für den Freund des Sensationellen,
kaum Dagewesenen; wertvoll für jene, denen es ein Ver-
gnügen des Geistes ist, der menschlichen Genialität in
ihren Verirrungen nachzuforschen, wichtig für die Kunst-
geschichte, weil in irgend einem Punkte Extreme bis zuni
Ende geführt worden sind, höchst betrübend für den, der
nur in ihnen eine ungemeine Begabung sich zerfleischen sieht.
 
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