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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 11.1895-1896

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Haack, Friedrich: Böcklin und Klinger: eine vergleichende Charakteristik
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https://doi.org/10.11588/diglit.12003#0014

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von Friedrich Haach.

Z


verhält es sich bei Klinger: seine Kulturmenschen mit der zarten, blassen Hautfarbe haben sich gerade wie die-
jenigen Ludwigs von Hofmann erst ausgezogen, ehe sie sich vor unseren überraschten Blicken zeigten. Und
doch darf man auch in diesen Figuren nicht bloße Aktstndien wähnen. Der durch Krankheit geschwächte, durch
Laster zu Boden gedrückte, von tausend Banden eingeengte Mensch unserer Zeit sehnt sich nach der Freiheit
der ursprünglichen Natur. Es ist dies eine Empfindung, welche bis auf Rousseau zurückgeht und welche sich
heute nur noch intensiver wie vor 100 Jahren auf den verschiedensten Gebieten geltend macht. Auf dem-
jenigen der Politik im Sozialismus, welcher aller Erfahrung spottet und jeglichen festen Bodens unter den Füßen
entbehrt. Auf dem Gebiete der Medizin in dem kindlichen Bestreben der Naturheilärzte, die unendlich mannig-
faltige Natur in einige wenige Formeln zu zwängen. Nur in der bildenden Kunst hat diese Empfindung

Odysseus und Kalypso, von Arnold Böcklin.

ihrem ganzen Charakter nach einen großen, schönen und abgeklärten Ausdruck finden können. In den rühren-
den Gestalten Hofmanns und noch viel mehr in denen Klingers spiegelt sich das heiße Sehnen des der Natur-
fernen Kulturmenschen nach Wiesenduft und Tannenschatten wieder. Wenn man den Unterschied, welchen
Schiller zwischen naiver und sentimentaler „Dichtung" macht, auch auf die bildende Kunst anwenden darf,
so ist Böcklin naiv und Klinger sentimental.

Böcklin kennt keinen Zwiespalt zwischen Leib und Seele. Physisches Liebesverlangen und Liebesglück
erscheint ihm als ewiges Naturgesetz, welches kraftstrotzenden Nachwuchs bewirkt. In seiner Welt giebt es Wohl
üppige Weiber, welche von heißer Liebe entbrennen, aber keine Cocotten. Ebensowenig kennt er ein Achsel-
zucken, Naserümpfen und Pfuirufen der Welt über glücklich Liebende. In Klingers Brust tobt dagegen der
ganze christlich-mittelalterliche Kamps zwischen Genießen und Entsagen, zwischen Leib und Seele. Bei ihm er-
scheint das physische Liebesglück wie eine Folge nervöser Überreizung oder auch wie die verbotene Paradieses-
frucht, deren Genuß — strenger wie in der Erzählung des alten Testamentes — mit vorzeitiger Vernichtung
bestraft wird. Bei Böcklin giebt es nur Mann, Weib und Kind; bei Klinger Mann, Frau und Verführer.
Böcklin ist durch und durch männlich, gesund und kraftstrotzend. Klinger hat einen gewissen femininen Zug,
er spricht unendlich viel mehr und in viel pikanterer Weise vom Weibe und vom rein Sexuellen. Ein zarter
Hauch von Hautgout, fast von Hysterie lagert über seinen Werken.

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