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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 11.1895-1896

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Fuchs, Georg: Friedrich Nietzsche und die bildende Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.12003#0098

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von Georg Fuchs.

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Neuheit hervorruft oder man baut ein neues Hans aus lauter reizvollen Trümmern alter Paläste. — Eine voll-
kommen neudeutende, gesunde, unsentimentale und unromantische Schule ist unsere moderne Landschafts-
malerei. Daher das Entsetzen, welches sie bei allen Stubenhockern der schwächlichen, verhätschelnden, trüben
und undeutlichen, wie ein kulturvergessener Feudalstaat von rostigen Gittern und blutigen Symbolen der Vor-
zeit eingezäunten Dämmerung entfachte. Wohl ihr, daß die Schwachen und Kranken davor Umfallen! Daß
sie die Erscheinungswelt als ein Land der starken Leiber, gesunden Lungen, roten Backen und lichttrunkenen,
kecken Blicke deutet! — Auch das „lehrt hoffen". — Die Landschaftsmalerei ist allerdings einzig und allein auf
Neudeutung angewiesen. Ihr Stoff und ihre Motive sind stabil: sobald Talente da sind und diese im Besitze
einer selbstgefundenen oder traditionellen Technik, muß eine rein künstlerische Thätigkeit sich ergeben.

Eine der merkwürdigsten Schulen,
welche aus dem Drange nach Um- und
Neudeutung entstanden, ist die der eng-
lischen Präraffaeliten. Sie ist in
Deutschland oft — ob aus Irrtum, ob
aus schlechtem Gewissen — mit roman-
tischen Anwandlungen identificiert oder
verglichen worden, zu denen sie in der
That nur ein Verhältnis hat: das des
absoluten Gegensatzes. Vielleicht hat auch
ihr Theoretiker, Ruskins, der Priester und
Gottesgelehrte, der auch in der Ästhetik
ein wenig Theologie trieb, schuld daran,
zumal an ihrem Namen, welcher nicht
ihrem Schaffen, sondern eben ihren Theo-
rien entnommen ist. Denn diese bedeu-
tendste und erfolgreichste Malerschule des
19. Jahrhunderts neben der Barbizoner
ist gar nicht englischen Ursprunges. Ihr
Gründer, ihr Haupt, ohne welches sie nie
zum Organismus geschlossen worden wäre,
war ein Italiener: der große Dante
Gabriel Rossetti. Ich muß zu meinem
herzlichen Bedauern gestehen, daß ich
Originalgemälde von der Hand dieses
Meisters noch nicht gesehen habe, und auf
Reproduktionen hin zu generalisieren, das
verträgt sich nicht mit meinem Gewissen.

Allein ich kenne seine Dichtungen; denn
dieser seltene Genius war auch einer der
größten Poeten, welche Europa nach Goethe
sehen durfte. Der enge Zusammenhang
seiner poetischen Werke mit den malerischen
ist unmittelbar deutlich, und da uns die
Bilder auf dem Kontinente nicht gegönnt
sind, so dürfen wir u^ so zuversichtlicher seinen Dichtungen vertrauen. In ihnen fällt zunächst auf,
daß der Italiener, der durch seine zufällig in England erfolgte Geburt eine seiner Abstammung nicht
entsprechende Muttersprache redet, gleichwohl auf eiue alte traditionelle Kunstform seiner wirklichen Heimat,
Italiens, zurückgreift: das Sonett, dessen Blütezeit mit der präraffaelitischen Malerei etwa zusammensüllt.
Das Sonett — nebenbei gesagt die kostbarste poetische Kunstform, welche das moderne Europa hervorgebracht
hat — ist sowohl rhythmisch wie harmonisch (wegen seines strengen, klaren Reimaccordes) dem englischen
Idiome ein wenig feindselig, unbequem, zu sehr konturiert. Es fordert den starken englischen Verskünstler zur
Umdeutung geradezu heraus: und Rossetti hat es umgedeutet! Sein englisches Sonett ist zunächst entstanden
aus einer Umdeutung der italienischen Form. Sodann deutete er den Inhalt um. Oder etwa den Inhalt
zuerst? Die Frage ist verloren. Tenn bei einer so hohen organischen Kunstform ist die Trennung zwischen
Form und Inhalt ein Unsinn — oder eine Barbarei.

(Der Schluß im nächsten Hefte.)


Die Aunst für Alle XI.
 
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