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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 14.1898-1899

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Stratz, Carl Heinrich: Der moderne Schönheitsbegriff vom weiblichen Körper
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https://doi.org/10.11588/diglit.12049#0460

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Z61


Der moderne HchöicheitDegriff vom weiblichen Liörper.

Von Or. <5.

er moderne europäische Mensch kennt vom lebenden
weiblichen Körper so gut als nichts. Er sieht nur
Gesicht und Hände, bei festlichen Gelegenheiten Arme
und Schultern. Nur einen oder einige wenige weibliche
Körper sieht er entkleidet, und auch diese meist unter Um-
ständen, die ihm ein nüchternes, unbeeinflußtes Urteil un-
möglich machen oder doch trüben; denn Liebe macht blind.

Ueber Gesicht und Hände kann er sich allerdings
ein selbständiges Urteil bilden, was er vom übrigen
Körper weiß, ist der Gesamteindruck der Erinnerungs-
bilder von Darstellungen desselben durch die bildende
Kunst; Beobachtungen an dem lebenden Weibe spielen
dabei eine ganz untergeordnete Rolle. Demnach beruht
das Schönheitsideal des modernen Europäers größtenteils
auf durch die Kunst vermittelten Eindrücken. Eine Aus-
nahme hiervon macht der Künstler und der Arzt.

Den unmittelbaren Eindruck, den der erste Anblick
eines nackten weiblichen Körpers auf den Beschauer aus-
übt, hat Goethe, der große Psychologe, in vortrefflicher
Weise geschildert?)

„Sie brachte mich darauf in ein kleines, artig möbliertes
Zimmer; ein sauberer Teppich deckte den Fußboden, in einer
Art von Nische stand ein sehr reinliches Bett, zu der Seite
des Hauptes eine Toilette mit aufgestelltem Spiegel, und zu
den Füßen ein Gueridon mit einem dreiarmigen Leuchter, auf
dem schöne Helle Kerzen brannten. Auch auf der Toilette
brannten zwei Lichter. Ein erloschenes Kaminfeuer hatte die
Stube durchaus erwärmt. Die Alte wies mir einen Sessel
an, dem Bette gegenüber am Kamin, und entfernte sich.

„Es währte nicht lange, so kam zu der entgegengesetzten
Thüre ein großes, herrlich gebildetes, schönes Frauenzimmer
heraus; ihre Kleidung unterschied sich nicht von der gewöhn-
lichen. Sie schien mich nicht zu bemerken, warf ihren schwarzen
Mantel ab und setzte sich vor die Toilette. Sie nahm eine
große Haube, die ihr Gesicht bedeckt hatte, vom Kopfe: eine
schöne, regelmäßige Bildung zeigte sich, braune Haare mit vielen
und großen Locken rollten auf die Schultern herunter. Sie fing
an, sich auszukleiden; welch eine wunderliche Empfindung, da
ein Stück nach dem anderen herabfiel, und die Natur, von
der fremden Hülle entkleidet, mir als fremd schien und beinahe,
macht' ich sagen, mir einen schauerlichen Eindruck machte.

„Ach, mein Freund, ist es nicht mit unseren Meinungen,
unseren Vorurteilen, Einrichtungen, Gesetzen und Grillen auch
so? Erschrecken wir nicht, wenn eine von diesen fremden,
ungehörigen, unwahren Umgebungen uns entzogen wird und
irgend ein Teil unserer wahren Natur entblößt dastehen soll?
Wir schaudern, wir schämen uns. —

„Soll ich dir's gestehen, ich konnte mich nicht in den
herrlichen Körper finden, da die letzte Hülle herabfiel! Was
sehen wir an den Weibern? Was für Weiber gefallen uns,
und wie konfundieren wir alle Begriffe? Ein kleiner Schuh
sieht gut aus, und wir rufen: welch ein schöner kleiner Fuß!

') Mit freundl. Genehmigung des Verlegers dem Buche
des Verfassers „Die Schönheit des weiblichen Körpers".
Den Müttern, Aerzten und Künstlern gewidmet. Mit 96 teils
farbigen Abbildungen im Text und 4 Tafel in Heliogravüre
(Stuttgart, Ferdinand Enke. Preis 8 M.) entnommen. Wie
wir erfahren, befindet sich von diesem, erst vor wenigen Monaten
erschienenen Buche, bereits die vierte Auflage in Vorbereitung,
gewiß ein Beweis für die Vortrefflichkeit desselben. Eine ein-
gehendere Besprechung finden unsere Leser in Heft 20 des lauf.
Jahrgangs.

') Briefe aus der Schweiz. Erste Abteilung. Cotta 4, p. 469.

H. Srvay?)

Nachdruck verboten.

Ein schmaler Schnürleib hat etwas Elegantes und wir preisen
die schöne Taille.

„Ich beschreibe dir meine Reflexionen, weil ich dir mit
Worten die Reihe von entzückenden Bildern nicht darstellen
kann, die mich das schöne Mädchen mit Anstand und Artigkeit
sehen ließ. — Alle Bewegungen folgten so natürlich aufeinander
und doch schienen sie so studiert zu sein. Reizend war sie,
indem sie sich entkleidete, schön, herrlich schön, als das letzte
Gewand fiel. Sie stand, wie Minerva vor Paris mochte ge-
standen haben"

Dieses Gefühl von Schauder, das Goethe so richtig
hervorhebt, eine Mischung von Schrecken über den unge-
wohnten Anblick und einer gewissen sinnlichen Erregung,
hat auch der Arzt vor seinem ersten weiblichen Patienten,
der Künstler vor seinem ersten weiblichen Modell. Es
verschwindet, sobald der Künstler nur das Schöne, der
Arzt nur das Menschliche sieht; und es erlischt sehr rasch
bei der Gewöhnung an den Anblick des Nackten.

In unserer Zeit, wo selbst die Vertreter des deutschen
Volkes sich nicht scheuten, das Bild der Wahrheit aus
ihrer Mitte zu verbannen, weil es nackt war?) sind
manche leicht geneigt, Nacktheit und Unsittlichkeit für das-
selbe zu halten. Das ist jedoch ein großer Irrtum.
Nicht das Nackte ist unsittlich, sondern die Augen des
Beschauers. Derjenige, der im nackten Körper nur das
Weib sieht, der über den ersten sinnlichen Eindruck nicht
hinauskommt, und sich von ihm beherrschen läßt, ist un-
sittlich und überträgt seine eigene Unvollkommenheit auf
den Gegenstand, den er betrachtet.

Die Bekleidung hat mit der Sittlichkeit nichts zu
thun, sondern nur mit der Schicklichkeit, mit der Mode.
Eine Entblößung, die von der Mode vorgeschrieben ist,
wird niemals als unsittlich empfunden.

Wer Gelegenheit gehabt hat, unter Völkern zu leben,
die ganz oder teilweise nackt gehen, wird bald gewahr,
daß die Kleidung mit der Sittlichkeit in gar keinem Zu-
sammenhang steht, und sehr bald bemerkt er die Er-
weiterung seiner beschränkten europäischen Auffassung an
sich selbst.

Sehr treffend schildert von den Steinei?) seine dies-
bezüglichen Eindrücke in Amerika.

Als ich im Jahre 1890 das Innere Javas bereiste,
begegnete ich bei Singaparna eines Morgens großen
Scharen von älteren und jüngeren Weibern, die, bis zum
Gürtel entblößt, zum Markte zogen. Der erste Eindruck
war dasselbe von Goethe beschriebene Gefühl von Schauder,
verursacht durch den Anblick weiblicher Nacktheit in für
mich neuer Umgebung und in so großer Masse. Bald
aber gewann trotz manchem wirklich klassisch schön gebauten
Mädchentorso die Abscheu vor dem vielen Häßlichen, was
hier in aller Unschuld gezeigt wurde, die Oberhand, und
ich begriff auf einmal, warum die meisten Weiber sich
lieber verhüllen, wenn die Mode es ihnen gestattet.

Eigentümlich sind die Verschiebungen, die das Schick-

*) Vor Eröffnung des neuen Reichstagsgebäudes anno
äoinirn 1895.

Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens, 1894.

Die Runft für Alle. XIV.

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