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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 15.1899/​1900

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Pauli, Gustav: John Ruskin
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https://doi.org/10.11588/diglit.12046#0273

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JOHN RUSKIN f

Nach zwölf langen traurigen Jahren gei-
stiger Zerrüttung ist John Ruskin am
20. Februar auf seinem Landsitz Brant-
wood in Lancashire einem Influenza-Anfall
erlegen. Als die Nachricht von seinem Tode
nach London gelangt war, beeilte sich der
Dekan von Westminster, den Erben Ruskin's
ein Grab in der Westminsterabtei für den
Entschlafenen anzubieten. Und das war recht.
Denn John Ruskin gebührte ein Ehrenplatz
in dem Ruhmestempel seines Volkes. Aber
seine treue Pflegerin und Nichte lehnte das
Anerbieten ab. Und das war ebenso recht,
denn auf dem stillen dörflichen Friedhof
von Coningston, unter Epheu und Immergrün
werden die Gebeine dieses begeisterten Freun-
des der Natur sanfter ruhen als in der stau-
bigen Grabesluft der Westminsterabtei.

So widersprechend die Urteile der Eng-
länder im einzelnen über Ruskin auch lauten
mögen, darüber sind sie sich alle einig, dass
er einer der grössten Träger englischer
Kultur gewesen sei. Wie kommt es, dass
man in der deutschen Schwesternation so
wenig von ihm weiss? Bei uns, die wir die
grösste Uebersetzungslitteratur der Welt
haben, ist kein einziges der vielen Werke
Ruskin's übersetzt worden. Erst in der aller-
neuesten Zeit ist eine kleine Blütenlese aus
seinen Schriften bei Heitz in Strassburg er-
schienen*). Gewiss scheute der Verleger das
Risiko einer umfassenden deutschen Ausgabe.
Und man kann es ihm nicht einmal ver-
denken. Unserm grossen Publikum wäre
Ruskin vielleicht noch zu gelehrt gewesen,
unseren Gelehrten sicher nicht gelehrt genug.

Ja, streng genommen, war Ruskin nach
deutschen Begriffen überhaupt kein Gelehrter.
Ihm fehlte vollkommen die Fähigkeit zu einer
kühl abwägenden historischen Betrachtung.
Ihm fehlten sogar die Kenntnisse zu einem
richtigen, wenn auch oberflächlichen Ueber-
blick über das Gesamtgebiet der Kunst. Was
soll man dazu sagen, wenn man ihn die ganze
Renaissance als eine Kunst der Entartung
verwerfen hört, oder wenn er mit der ihm
eigenen Emphase verkündet, ' dass alle Bau-
formen seit dem Altertum entweder von dem
dorischen oder dem korinthischen Stil ab-
geleitet seien? Als Gelehrter hat Ruskin
manchen Unsinn geschrieben. Aber seine

*) Bislang liegen fünf Bändchen vor: Wege zur
Kunst I und II — Was wir lieben und pflegen
müssen — Wie wir arbeiten und wirtschaften müssen
— Aphorismen und Lebensweisheit.

Widersinnigkeiten wurden überstrahlt von den
Blitzen des Genies, und sie wurden vor-
getragen in einer Sprache, deren Wohllaut
etwas unwiderstehlich Bezauberndes hatte.
Und dann waren die leitenden Grundanschau-
ungen, die seine Arbeit und sein Leben be-
herrschten, selbst in ihren Irrtümern gross und
edel. Er hegte eine schwärmerische Liebe für
die Natur und die Menschen, an deren ur-
sprüngliche Güte er kindlich glaubte. Von einer
tiefen religiösen Sittlichkeit erfüllt, betrachtete
er die Kunst viel mehr von ethischen als
von ästhetischen Gesichtspunkten und hielt
für die beste Kunst diejenige, deren Uebung
den Menschen in seinem ganzen Wesen,
körperlich und geistig, am meisten fördere.
In der Architektur glaubte er eine solche
Kunst im gotischen Stil gefunden zu haben.
Mit derselben leidenschaftlichen Einseitigkeit,
mit der er für die Gotik eintrat, warf er sich
in das Kunstleben seiner Zeit. Sein Einfluss
war gewaltig und ist immer noch nicht er-
schöpft. Freilich ist sein grosses Erstlings-
werk, „Modern Painters", in gewissem Sinne
antiquiert, denn über die Bedeutung Turners,
die hier lang und breit verfochten wurde, ist
sich längst alle Welt einig. Nicht minder
überlebt hat sich die Propaganda Ruskin's
für die Malerei der Präraphaeliten. Musste er
es doch selbst mit ansehen, dass Häupter
dieser Gruppe, wie Millais und Watts, sich
von der Fahne abwandten, die er so eifrig
über ihnen schwang. Dagegen haben seine
Anregungen für eine künstlerische Belebung
des Handwerks tausendfältige Frucht getragen.

Schliesslich verlor er sich mehr und mehr
in seine sozialpolitischen Träumereien. Er
opferte ihnen einen beträchtlichen Teil seines
grossen Vermögens, um sich schliesslich ver-
bittert und bekümmert aus der Welt der
Eisenbahnen und Maschinen, die er ehrlich
hasste, und die er doch nicht ändern konnte,
zurückzuziehen. Von seinen sozialpolitischen
Schriften können wir hier füglich absehen.
Wenn ich aber zum Schlüsse den Lesern
dieser Zeilen die Hauptwerke Ruskin's ans
Herz lege, die „Modern Painters", die „Stones
of Venice", die „Seven lamps of architecture",
so gebe ich damit der Ueberzeugung Aus-
druck, dass auch unser Publikum viel aus
diesen Büchern schöpfen kann. Sie enthalten
mit all ihren Wunderlichkeiten eine Fülle
von Anregung, denn Ruskin war ebensolcher
Künstler wie Gelehrter. Sie bieten ferner
eine Fülle rein litterarischen Genusses, denn
Ruskin war der glänzendste Prosaschrift-
steller, den England in den letzten Jahr-
zehnten besass. Gustav Pauli

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