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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 16.1900-1901

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Volkmann, Ludwig: Mediziner und Kunstwerk
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https://doi.org/10.11588/diglit.12079#0244

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ABRAHAM ARCH I P O \Y

ALTER FISCHER

MEDIZINER UNI

Von Ludwig

Ja, ja, mein Lieber, ganz verstehen und
beurteilen kann heutzutage eben doch
nur der Arzt die Darstellung eines mensch-
lichen Körpers. Nur er hat Gelegenheit,
nackte Körper zu sehen, nur er beherrscht
die äusseren und inneren Formen und Funk-
tionen des Leibes, auf Grund anatomischer
Studien." Also sprach, erhobenen Hauptes,
der gelehrte Herr Doktor, der in dem Bilde
einen „eklatanten anatomischen Schnitzer"
entdeckt hatte; und beschämt schlich sich der
Freund von dannen, der eben noch des Meisters
Gestaltungskraft ahnend nachgefühlt hatte.

Wem wäre diese kleine Geschichte aus dem
Leben, so oder ähnlich, nicht schon wirklich
passiert, wenn er mit einem Mediziner vor
Kunstwerken zusammentraf, und wer hätte
es nicht schmerzlich empfunden, dass ein so
wesentlicher Teil des Kunstverständnisses dem
Nichtmediziner von vorn herein verschlossen
sein sollte? Denn das letzte Produkt der
sich immer steigernden Natur ist der schöne
Mensch, wie Goethe sagt, und die Darstellung
des menschlichen Körpers hat zu allen Zeiten
als eines der höchsten Ziele künstlerischer
Thätigkeit gegolten.

Gehen wir nun aber der Frage auf den
Grund, ob denn wirklich nur der Arzt einen
menschlichen Körper im Kunstwerk verstehen
könne, so ergiebt sich sogleich, dass dieselbe
in so allgemeiner und umfassender Form

) KUNSTWERK

Volkmann

(Nachdruck verboten)

gar nicht gestellt werden dürfte, dass wir sie
vielmehr in zwei Teile zerlegen müssen, um
Klarheit zu gewinnen; nämlich erstens: wie
steht es mit der Kenntnis und Beurteilung
des menschlichen Körpers in natura? und
zweitens: ist es mit dieser Naturkenntnis ge-
than und ist sie das einzige oder auch nur
das wesentliche Erfordernis zum Verständnis
des Körpers im Kunstwerke?

Die Beantwortung der ersten Frage wird
zweifellos unter den heutigen Verhältnissen
durchaus zu Gunsten des Arztes ausfallen.
Thatsächlich ist es fast nur diesem vergönnt,
nackte Menschen häufiger zu sehen und sicher-
lich kommt die Kenntnis der Anatomie in
vielen Stücken seiner Anschauung zu Hilfe.
Die meisten unserer Gebildeten aber sind so
weit vom Anblick des Nackten entfremdet,
dass sie es fast nur aus Bildern kennen und
es in der Wirklichkeit — Gott sei's geklagt —
als unanständig empfinden. Nur wenige sind
es ohne Zweifel, die selbst so viel künstle-
rischen Trieb nach der Kenntnis der herr-
lichsten Naturschöpfung haben, wie ihn Goethe
in seinen Briefen aus der Schweiz uns offen-
bart. Es Hegt ein heiliger Ernst darin, wie
er dort schildert, dass er in der Kunst eigent-
lich nur das begreift, was er in der Natur
genau kennt; jeden Wasserfall aber, jeden
bemoosten Felsen kennt er, — nur der mensch-
liche Körper ist ihm etwas Fremdes. Und

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