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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 19.1903-1904

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Gönner, R.: Wörth und die Zügelschule
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https://doi.org/10.11588/diglit.12082#0552

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«^5g> WORTH UND DIE ZUGELSCHULE <ö2-*-

seiner künstlerischen Individualität überlassen
bleiben muß. Eine ebenso erhabene als
schwierige Aufgabe für den Lehrer, die zarte
Pflanze der Eigenart nicht durch seine über-
legene Erfahrung und sein erdrückendes
Können zu ersticken, sondern sie zu pflegen
und emporzuziehen zu dem Ziel, das ihr
durch die innewohnende Kraft gesteckt ist.
Oft läßt Zügel seine Leute nach dem eigenen
Kopf arbeiten, er weiß ja, er sieht es ja
auf den ersten Blick, daß der Weg ein falscher
ist, er weiß, daß der Schüler gleich dem ver-
lorenen Sohn eines Tages zu ihm und seiner
Lehre zurückkehrt, um desto ergebener und
bedingungsloser sein Anhänger zu sein. Väter-
lich wird der Irrende aufgenommen. Einige
anerkennende Worte richten den Heimkeh-
renden auf, der, müde und abgequält, an
seinen Fähigkeiten verzweifelt. Ein scharfer
Tadel öffnet aber auch dem Leichtfertigen
die Augen, der da etwa noch nicht zu der

bitteren Erkenntnis gekommen sein sollte,
daß der Weg zur Vollendung ein dornenvoller
ist, der nur in harter, unerbittlicher Arbeit
zurückgelegt werden kann. Zügel stellt an
seine Schüler die höchsten Anforderungen,
aber er stellt sie auch an sich selbst.

In der kleinen Wörther Künstlerrepublik
bildet naturgemäß der Meister auch den Mittel-
punkt des gesellschaftlichen Lebens. Ein ge-
meinsames Band umschlingt Meister und
Jünger, das der absolutesten Hingabe an die
große, schwere Aufgabe, die sie sich gestellt
haben. In den wenigen Stunden, die nicht
mit Arbeit ausgefüllt sind, insbesondere abends
oder an Sonntagen, versammelt sich die Schar
der Schüler, soweit es die beschränkten Raum-
verhältnisse im Gasthaus zum „Hirschen"
gestatten, um den Lehrer, sei es zu einer
gemütlichen Plauderstunde oder zu einem
größeren Ausflug in die reizvolle weitere
Umgebung Wörths. In regem Gedankenaus-

tausch werden Kunstfragen allgemeiner Be-
deutung besprochen, mancher Irrtum und
mancher im Drang der Tagesarbeit unauf-
geklärte Zweifel findet dort in vertraulicherem
Gespräch seine Lösung. Mitunter wird ein
wenig politisiert, mitunter ein wenig von
Jagd und Sport sonstiger Art gesprochen. Zu
den interessantesten Stunden gehören die,
welche mit Erzählungen Zügels aus seinem
bewegten Leben ausgefüllt sind. Von der
Zeit, wo er als einfacher Bauernsohn seines
Vaters Schafe hütete, bis heute, wo er auf
der Höhe seines Ruhmes steht, eine ununter-
brochene, harte, energische Arbeit und Selbst-
zucht, in den Anfängen eine Kette von Ent-
behrungen, der aber auch in späterer Zeit
eine Kette von Erfolgen entsprach.

Das Wertvollste aber und das Kostbarste:
Dort sind den Schülern die begonnenen und
vollendeten Arbeiten des Meisters zugänglich.
Es wird ihnen vergönnt, einen Blick in die
Werkstatt zu tun, sie haben die Gelegenheit,
zu sehen, wie eine Arbeit des Meisters am
ersten, zweiten, dritten Arbeitstag aussieht,
aussehen soll, sie sehen, wie diese Arbeit
manchmal auch bei ihm unter schweren
Kämpfen der Vollendung entgegenreift. Ein
Lehrmittel von siegreicher Kraft, ein An-
schauungsunterricht, der mehr Erfolge bringt,
als jahrelange Vorträge. Hier sieht man leider
auch, wie viele Perlen den Anhängern der
Kunst Zügels verloren gehen durch die viel-
leicht zu weit getriebene Härte des Meisters
gegen sich selbst. Wie manches entzückend
frische, unmittelbare Kunstwerk fällt unter
der unerbittlichen Tätigkeit des Kratzmessers

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