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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 20.1904-1905

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Manskopf, Johannes: Böcklins Kindergestalten
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https://doi.org/10.11588/diglit.12355#0179

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-»=4sö> BÖCKLINS KINDERGESTALTEN <ö2~s~

und schluchzt bitterlich, wie Kinder weinen,
ohne recht zu wissen, warum, bloß weil sie
einen Erwachsenen weinen sehen.

Damit sind wir bei den religiösen Bildern
angekommen, die wir uns zum Schluß dar-
auf ansehen wollen, welche Rolle Böcklin
die Kinder auf ihnen spielen läßt. Wenn es
überhaupt nicht leicht ist, den echten Kinder-
ton zu treffen, so gilt das ganz besonders
von der Darstellung kindlicher Frömmigkeit.
Wie schwer es ist, hier nicht in Süßlichkeit
und Unnatur zu verfallen, dafür bieten zahl-
lose „schöne" Bilder mit betenden Kindern
abschreckende Beispiele, auf denen sich wohl
die Pose der Frömmigkeit, nicht aber diese
selbst findet. Einer hat's gekonnt, Ludwig
Richter, und er konnte es, weil er eben selbst
eine einfältig fromme Kindesnatur war. Die
frommen Kinder Richterscher Bilder, die
beten, singen und ihren kindlichen Gottes-
dienst halten und schon ein persönliches
Verhältnis zu ihrem lieben Gott haben, darf
man freilich bei unserm Meister nicht suchen.
Auf dem leider nicht ausgeführten großartigen
Entwurf zu einem für Breslau bestimmten
Fresko „Lux fertur in tenebras" hätte er Ge-
legenheit gehabt, in der Gruppe auf dem
rechten Flügel, die sehnsüchtig und begeistert
dem von dem Christus des Mittelbildes aus-

strahlenden Lichte sich entgegendrängt, auch
Kinder in anbetender Verehrung des Heilands
darzustellen. Aber seine unbestechliche Wahr-
heitsliebe ließ ihn darauf verzichten. Das
leidenschaftliche Pathos des Vorgangs ließ
keinen Raum für fromme Kindereinfalt. Wohl
fehlt nicht die Gestalt einer Mutter mit einem
Säugling auf dem Arm und einem älteren
Knaben an der Hand. Aber scheu drängt
sich dieser an die Mutter heran, den Kopf
ängstlich nach der Volksmenge umgewandt,
deren starke Erregung ihm unverständlich
und verwirrend sein muß.

Auch in der Darstellung der Geburt Christi
(s. Abb. S. 162) auf dem Triptychon „Marien-
legende" sind die Engeltypen auf den Ton
des Ganzen gestimmt, und der drückt nicht
ehrfürchtige Anbetung, sondern staunende
Freude aus. Der vorderste Engelknabe zeigt
wieder die für viele von Böcklins Kinder-
gestalten charakteristische Geste. Die Finger
der Rechten im Mund, die der Linken ge-
spreizt, steht er vor dem Christkind. Fast
ins Komische ist der Ausdruck starren Stau-
nens gesteigert bei dem hintersten Engel,
der sich mit weit aufgerissenen Augen hinter
den andern emporreckt, um auch einen Blick
auf das kleine Wunder werfen zu können.
Neben dem ersten Engel aber lugt noch ein

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